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Die ganze Welt des Wissens, gut recherchiert, spannend erzählt. Interessantes aus Geschichte und Archäologie, Literatur, Architektur, Film und Musik, Beiträge aus Philosophie und Psychologie. Wissenswertes über Natur, Biologie und Umwelt, Hintergründe zu Wirtschaft und Politik. Und immer ein sinnliches Hörerlebnis.
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4456 epizódok
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×Bittere Armut trieb die Menschen in Norditalien dazu, sich in den Sommermonaten auf bayerischen Baustellen und Ziegeleien zu verdingen. Der Bauboom des späten 19. Jahrhunderts ist auch ihr Verdienst. Von Julia Devlin Credits Autorin dieser Folge: Julia Devlin Regie: Christiane Klenz Es sprachen: Thomas Birnstiel, Caroline Ebner, Sebastian Fischer Technik: Robin Auld Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Lambert Grasmann, ehem. Direktor des Heimatmuseums Vilsbiburg Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Mutter haben - Eine Familiengeschichte im Schatten der deutschen Teilung von Ruth Johanna Benrath in 2 Episoden JETZT ENTDECKEN Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER . Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: ZITATOR Pietro Menis Meinen Einstand, meine erste Erfahrung in Deutschland erlebte ich zu Beginn des Jahrhunderts in der Ziegelei von Marktoberdorf in Bayern. Ich war noch keine elf Jahre alt und hatte nie zuvor einen Zug bestiegen, noch die Welt jenseits der Berge von Gemona gesehen. Dreißig Stunden dauerte die Fahrt in drei verschiedenen Zügen: einer bis zur Grenze bei Pontebba, ein zweiter durch Österreich bis Kufstein und ein dritter durch Ebenen, dichte Wälder und geschäftige Städte des fetten Bayern. Wie groß war doch die Welt! SPRECHERIN So beschrieb der Schriftsteller Pietro Menis, wie er im Jahr 1903 das erste Mal nach Bayern kam, um als "Mui", als Wegtrager in einer Ziegelei zu arbeiten. Er war zehn Jahre alt, und ihn quälte das Heimweh. ATMO Dampfzug ZITATOR Pietro Menis 'Gleich sind wir da, "mui", packt eure Sachen.' Durch das beschlagene Fenster sah ich dichtes Schneetreiben. Kurz danach hielt der Zug unter einem kleinen Dach, unter das der Sturm den Schnee trieb. Ich zitterte vor Kälte und Angst. 'Um diese Zeit macht deine Mutter die Polenta!' sagte einer. Ich begann zu weinen; sie hatten ihr Ziel erreicht und lachten mit unmenschlichem Vergnügen. Ich erinnere mich, daß 'die Großen', die 'eisenharten' Ziegler, auch später, in den folgenden Jahren, ihren Sadismus auslebten, indem sie den Jüngsten ihre heiligste Zuneigung in Erinnerung riefen - die geliebten Gesichter in der Ferne. SPRECHERIN Pietro war einer von tausenden Italienern, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert ihre ländlich geprägte Heimat in Norditalien verließen, um sich während der Sommersaison im Ausland zu verdingen. ZITATOR Pietro Menis Die 'Arbeit', die Ziegelei, befand sich in einem kleinen Tal zwischen einem Hügel, der rechts anstieg, und einem Fluß, der links hinunterfloß. 'Beim Morgengrauen geht's los. An die Mutterbrust könnt ihr euch im Herbst wieder werfen...' MUSIK 2 Gerd Baumann & Gregor Hübner: In dead silence 1‘00 SPRECHERIN Es war die bittere Not, die die Menschen dazu zwang. Schon immer war es in den kargen Alpentälern schwer gewesen, sich ein Auskommen zu verschaffen, und Saisonwanderung, besonders von spezialisierten Handwerkern wie Terrazzolegern und Schmieden, aber auch von Krämern, hatte jahrhundertealte Tradition. Dann geriet die italienische Landwirtschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in eine Krise, da billige Agrarprodukte aus Russland und den USA auf den Markt kamen. Dies traf besonders die norditalienische Region Friaul schwer. Gleichzeitig wuchs die Bevölkerung stark an, vor allem, weil die Kindersterblichkeit erheblich zurückging. Die Menschen verarmten, denn es gab nicht genug Arbeitsplätze in der Nähe. Nun waren es nicht mehr nur die spezialisierten Handwerker, die saisonal nach Arbeit suchten, sondern vor allem ungelernte Kräfte. ATMO Baulärm SPRECHER Anders nördlich der Alpen. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts nahm die Industrialisierung im Deutschen Kaiserreich Fahrt auf, die Städte wuchsen, das Eisenbahnnetz verdichtete sich. Es gab immer mehr Arbeit, und immer mehr Baustellen. Gleichzeitig wurde es auch immer schwieriger, in den Sommermonaten genügend Arbeitskräfte für die Saisonarbeit zu finden. Mit Einheimischen war das nicht mehr zu stemmen - zumal am Ende des 19. Jahrhunderts eine Auswanderungswelle knapp zwei Millionen Deutsche nach Übersee geführt hatte. Da lag es nahe, ausländische Arbeitskräfte anzustellen. Sie waren bereit, die harte Arbeit zu leisten, die bei den Einheimischen nicht beliebt war. MUSIK 3 Gerd Baumann: Sieben Leben 0‘56 SPRECHERIN Auch Bayern boomte. Hier fanden vor allem Arbeitskräfte aus Italien Arbeit. Weil sie von jenseits der Alpen kamen, wurden sie "transalpini" genannt. Sie fanden - wie Pietro Menis - vor allem in den zahlreichen Ziegeleien Arbeit. Wo immer sich im lehmreichen Bayern im 19. Jahrhundert ein Vorkommen dieses Rohstoffs fand, wurde er alsbald abgebaut, zu Ziegeln verarbeitet und zu den nächstgelegenen Baustellen gebracht. Zahlreiche Ziegeleien gab es zum Beispiel um Augsburg und München. Die dort gefertigten Ziegel wurden für den Bau der rasch wachsenden Stadt benötigt, für die großen Kasernen, für die Pflasterung der Gehwege und Straßen und für die Tunnel der neuen Kanalisation. Die Städte waren ziegelhungrig, sie verschlangen Unmengen des Baustoffes. SPRECHER Doch auch anderswo, wo der Rohstoff Lehm zu finden war, entstanden aufgrund der großen Nachfrage Ziegeleien. So auch im niederbayerischen Vilsbiburg. Im Heimatmuseum der Stadt erfährt man viel zu der Ziegeleigeschichte. Lambert Grassmann hat hier in seiner Zeit als Direktor des Heimatmuseums die Abteilung "Ziegelpatscher und Ziegelbrenner im Vilsbiburger Land" eingerichtet. Im obersten Stockwerk des stattlichen Baus - dem ehemaligen Heilig-Geist-Spital aus dem Spätmittelalter- kann man seine Funde bewundern. SPRECHERIN Da gibt es Dachziegel aller Formen und Größen, tönerne Wetterhähne, die hölzernen Formen, in denen der rohe Lehm gepresst wurde. Es gibt markierte Ziegelsteine, die Beschriftungen tragen, auf denen eine Zeichnungen eingeritzt ist oder ein Name. Dies sind die Feierabendziegel, bei denen sich ein Ziegler die Freude gemacht hat, einen Ziegel individuell zu verschönern. Anrührend das Exemplar, das den Abdruck einer kleinen Hand zeigt: Hier hat ein Kind, vielleicht so alt wie Pietro Menis, seine Hand in den noch feuchten Lehm gedrückt. Lambert Grasmann hat diese Exponate zusammengesucht. Wie er erzählt, hat er O-Ton Grasmann 1 Darunter einen Ziegelstein erhalten, eine Bodenplatte, die bezeichnet ist: "Buia, Santi Angelo". Kein Mensch hat gewusst, was das bedeutet. SPRECHER Die quadratische Platte aus Ton stammte aus einem Bauernhaus der Umgebung. Sie war Teil des Fußbodenbelags gewesen. Jemand hatte sich große Mühe damit gegeben, in sorgfältigen Buchstaben in den noch feuchten Ton zu ritzen: Buia Santi Angelo. O-Ton Grassmann 2 Der Kreisheimatpfleger von Dingolfing, Fritz Markmüller, hat mir das aufgelöst: Buja ist eine Stadt, wo - aus dem Umkreis vor allem - Ziegler nach Bayern, in die Schweiz und nach Frankreich gewandert sind und haben Ziegel hergestellt. SPRECHERIN Buja liegt im Friaul, einer Landschaft in Venetien im Nordosten Italiens. Die in Bayern tätigen transalpini kamen vor allem aus dieser Gegend. Lambert Grassmann hat sogar noch einen persönlichen Kontakt zu den transalpini herstellen können. O-Ton Grassmann 3 Und ich habe einen alten Herrn gefunden, der ist mir verraten worden von der Gemeinde, einen Domenico Calligaro, dessen Vater in Vilsbiburg von 1883 bis 1908 Akkordant, also Ziegelmeister war, und der für die Anwerbung der Arbeiter, dann fürs Essen zuständig war, und auch für die Bezahlung, die er ja vom Ziegeleibesitzer erhalten hat, die hat er dann an die Arbeiter weitergegeben. SPRECHERIN Die Akkordanten waren Zwischenunternehmer. Sie waren oft selber Ziegeleiarbeiter gewesen und beherrschten die benötigten Sprachen - deutsch, italienisch und das im Friaul gesprochene furlanisch. Vor Saisonbeginn handelten sie mit den Ziegeleibesitzern einen Vertrag aus. Darin wurde festgelegt, wieviele Steine zu liefern waren und wie die transalpini untergebracht und verpflegt würden. Auch der Preis für 1000 Stück Steine wurde ausgehandelt. Mit dem Vertrag in der Tasche kehrten die Akkordanten ins Friaul zurück und warben dort eine Mannschaft, die sogenannte squadra an. Die Menschen, die die Wintermonate ohne Einkommen gewesen waren, verpflichteten sich bereitwillig. Diese Tage des Anheuerns wurden in einigen Dörfern wie ein Volksfest begangen, auch wenn kritische Stimmen von einem "Markt für Menschenfleisch" sprachen. MUSIK 4 Gerd Baumann: Brenner 1‘00 SPRECHER Im März oder April brachen die Ziegler dann nach Deutschland auf. Vor dem Bau der Bahn war dies ein Fußmarsch von etwa zehn Tagen. Die Route folgte jahrhundertealten Pfaden, über den Plöckenpass, den Felbertauern und den Pass Thurn nach Kitzbühl und Kufstein bis nach Bayern. Der Akkordant führte seine Arbeitsgruppe, organisierte die Verpflegung und die Unterkunft auf der Strecke. SPRECHERIN Mit der Brennerbahn wurde 1867 eine direkte Verbindung zwischen Deutschland und Italien geschaffen. Dies verkürzte die Reisedauer nach Bayern auf zwei Tage. Im Herbst ging es dann zurück. Der Akkordant Luigi Calligaro blieb jedoch in Vilsbiburg, wie Lambert Grassmann von dessen Sohn erfahren hat. O-Ton Grassmann 4 Der Domenico Calligaro, 1890 geboren, war natürlich bei seinem Vater mit dabei, und der Mutter, und die haben diese Jahre, von 1883 bis 1908 in Vilsbiburg gelebt. Die sind praktisch nicht heimgefahren, oder heimgewandert, wie die Ziegelarbeiter, die ja im März gekommen sind und im Oktober, spätestens Anfang November wieder in die Heimat mit Geld zurückgekehrt sind, sondern der ist dageblieben. Dieser Luigi Calligaro, dieser Akkordant, der hat in Vilsbiburg eine gehobene Stellung gehabt. Der war schon jemand, den man auch gehört hat. SPRECHER Durch ihre Orts- und Sprachkenntnisse hatten die Akkordanten eine mächtige Position, denn die von ihnen geworbenen Saisonarbeiter waren auf sie ebenso angewiesen wie die Ziegeleibesitzer. Möglicherweise war die verbesserte Bahnverbindung der Grund dafür, dass der Akkordant Luigi Calligaro nicht mehr als Begleitung benötigt war. Auch war es für das Familienleben einfacher - der Sohn Domenico musste nicht aus seinem Alltag herausgerissen werden. O-Ton Grassmann 5 Er war ja im Kindergarten in Vilsbiburg, und ist auch in die Schule gegangen, er hat mir sein Schulzeugnis gezeigt. Ich hab von seinem Sohn dann, vom Piere-Luigi, ein Erstkommunionzeugnis von 1901 bekommen; das kann man im Heimatmuseum sehen. MUSIK 5 Salewski & Thomas Geltinger: Radfahren 0‘52 SPRECHERIN Fast achtzig Jahre später kehrte Domenico Calligaro nach Vilsbiburg zurück - 1979, zu einem Klassentreffen. Lambert Grassmann hat ihn dann kurz darauf während eines Italienurlaubs in Buja besucht. Daraus entwickelte sich nicht nur eine persönliche Freundschaft, sondern auch eine lebendige Städtepartnerschaft zwischen Vilsbiburg und Buja. SPRECHER Sehr gerne kommen die Besucher aus Buja ins Museum, denn hier liegt ein Verzeichnis mit über 2.300 italienischen Ziegelarbeitern und -arbeiterinnen aus. Lambert Grasmann hat dazu Krankenversicherungsunterlagen ausgewertet. Denn im wilhelminischen Kaiserreich waren ab 1883 alle Beschäftigten in Handwerks-, Fabrik- und Gewerbebetrieben krankenversicherungspflichtig. O-Ton Grassmann 7 Da sind also die Namen drin, die Herkunft der Ziegler, die persönlichen Daten, der Arbeitsort, und die Arbeitszeit, also vom Anfang bis zum Herbst, solang sie halt da waren. SPRECHERIN Eine Fundgrube für die Familienforschung. O-Ton Grassmann 8 Wenn Besucher aus Buja kommen, da können die wunderbar suchen drin, die finden dann einen Angehörigen, der da gearbeitet hat. MUSIK 6 Salewski & Thomas Geltinger: Oli 1‘00 SPRECHERIN Die Arbeit in den Ziegeleien war hart. Ein zeitgenössischer Beobachter schreibt: Zitator Giovanni Cosattini Die Arbeiter, welche der größten Anstrengung unterworfen sind, sind die Handformer, deren Arbeit, den Tonklumpen hochzuheben und in die Form zu drücken, eine große Arbeitskraft in Armen und Brust erfordert... Jeder Ziegelformer hat eine Arbeitsbank zu seiner Verfügung nebst einer kleinen Kiste für den Sand, der auf das Rohmaterial gestreut wird... Ihm helfen zwei Muli, wie im Berufsjargon die beiden Knaben zwischen 10 und 15 Jahren genannt werden, denen es obliegt, die gefüllte Form aufzuheben, den Ziegel herauszunehmen, ihn auf den Trockenplatz zu schaffen, die Form zur Bank zurückzubringen, sie mit Sand zu bestreuen und dem Former zu reichen. SPRECHERIN Auch Frauen wurden als Muli eingesetzt. O-Ton Grassmann 15 Die Frauen, das waren die Wegtrager. Und die Kinder. Die mui auf Furlan, auf Friulanisch, und sonst auf Italienisch heißen sie muli. So hat man sie genannt, und so hat man sie auch benutzt. SPRECHERIN Zwischen fünf- und siebentausend Ziegel musste ein einzelner stampatore, ein Ziegelpatscher, wie er auf bayerisch hieß, an einem Tag schlagen. Die Arbeit begann zwischen vier und fünf Uhr morgens und dauerte bis in die Nachtstunden. Und dies bei ebenso dürftiger Ernährung, die vor allem aus Polenta und Käse bestand, und bei dürftiger Unterkunft: Die Schlafräume waren meist mit Stroh ausgelegte Bretterverschläge auf dem Gelände der Ziegelei, oder die Holzböden der Trockenstadel. SPRECHER Im Jahre 1879 setzte das Königreich Bayern eine Gewerbeaufsicht ein, um den Schutz von Arbeitern und Arbeiterinnen in Betrieben zu kontrollieren. Lambert Grassmann weiß zu berichten: O-Ton Grassmann 9 Da ist der sogenannte Fabrikeninspektor gekommen aus Landshut und hat nachgeschaut, wie es mit den Arbeitsstellen ausschaut, mit den Unterkünften, etc., mit den hygienischen Verhältnissen, und das waren natürlich nicht die besten. Gerade die sogenannten Aborte, hat er geschrieben: "Es gibt kein Dach, es gibt keine Seitenwand, es gibt keine Rückwand, es gibt keine Türe. Es gibt nur einen Balken." Und dann, aufgrund dieser Beanstandung, ist es dann besser geworden. Es sind dann feste Unterkünfte gemacht worden, ein paar Häuser stehen noch... SPRECHER Besonders die Kinder- und Jugendarbeit in den Ziegeleien war der Gewerbeaufsicht ein Dorn im Auge. Sie versuchten, das Mindestalter für die Jugendlichen heraufzusetzen und ihre Arbeitszeit zu begrenzen. O-Ton Grassmann 10 Es hat einen Aushang geben müssen, wo also diese Schüler aufgelistet werden müssen, 28.47 und da ist also immer wieder aufgefallen, dass welche unter 13 Jahren, mit 10 Jahren also haben sie welche mitgenommen. Und die san dann heimgeschickt worden. Wie das gegangen ist, weiß ich nicht, aber sie sind dann heimgeschickt worden. MUSIK 7 Salewski & Thomas Geltinger: Martins Aquarium 1‘24 SPRECHERIN Auch in der bayerischen Schulbehörde sorgte man sich um die minderjährigen Italiener. Denn die Schulpflicht erstreckte sich in Bayern auch auf ausländische Kinder. So richtete ab 1890 die Schule an der Wörthstraße im Münchener Stadtteil Haidhausen eigene Schulklassen ein, in denen die Kinder der transalpini und jugendliche Ziegeleiarbeiter auf Italienisch unterrichtet wurden. Hier, am Ostufer der Isar, befanden sich zahlreiche Ziegeleien, denn zwischen Ismaning und Ramersdorf erstreckte sich eine ertragreiche Lehmzunge. SPRECHER Das Ansinnen mutet heute bemerkenswert fortschrittlich an. Es war ein bayerisch-italienisches Prestigeprojekt. Der päpstliche Nuntius schaute gelegentlich vorbei. Der italienische Generalkonsul und der Vizekonsul ließen sich gerne bei der jährlichen Abschlussfeier sehen, und dank großzügiger Spenden wurde jedes Kind an diesem Tag mit einem neuen Gewand, einer Brotzeit und einem Glas Bier bedacht. Doch die gutgemeinte Idee scheiterte an der Praxis. Zu weit waren die Wege, und zu sehr wurde die Arbeitskraft auch der Jüngeren gebraucht. Und so wurde das Projekt schon 1904 wieder aufgegeben. SPRECHERIN Auch die katholische Kirche kümmerte sich um die transalpini. Dies war aufgrund der Konfession naheliegend. Die Kirche verglich die Arbeitsmigration mit dem Exodus der Israeliten aus Ägypten oder mit der Flucht der Heiligen Familie. Sie gründete die Hilfsorganisation "Opera di assistenza". Lambert Grassmann weiß von Vilsbiburg zu berichten: O-Ton Grassmann 13 31.01 1898 hat also die Obrigkeit möglich gemacht, dass die italienischen Ziegelarbeiter in der Wallfahrtskirche Maria Hilf zu Vilsbiburg einen Gottesdienst haben besuchen können, und die Predigt hat ein aus München stammender ... Pater gehalten, der Pater Linus, der war Vikar des Kapuzinerklosters in München, hat natürlich Italienisch können, vielleicht war's sogar ein Italiener. MUSIK 8 Pixner, Delgado, u.a.: Melanchodia 1‘16 SPRECHER Neben den Ziegeleien waren die zahlreichen Baustellen im Boomland Bayern ein Betätigungsfeld der transalpini. Im Hoch- und Tiefbau, für Häuser, Tunnels, Straßen und Eisenbahn wurden die italienischen Wanderarbeiter eingesetzt. Hier kamen den transalpini ihre Erfahrung mit dem schwierigen Terrain der Alpen zugute. Der bayerische Schriftsteller Oskar Maria Graf schildert in seinem autobiografisch geprägten Roman "Das Leben meiner Mutter", wie er einen solchen Bautrupp erlebte: ZITATOR Oskar Maria Graf Die Bauleute setzten sich zum Teil aus bärtigen, dunkelhäutigen, ausgedörrten Italienern zusammen... Sie redeten ein ziemlich unverständliches Kauderwelsch zusammen, aber sie schufteten viel ergebener als die einheimischen, meist schon gewerkschaftlich organisierten Maurer. Sie kamen scharenweise Sommer für Sommer aus den armen Gegenden ihrer fernen Heimat, arbeiteten für jeden Lohn und kannten nur eine Kameradschaft unter sich, die wahrscheinlich auch nur von der gleichen Sprache herrührte. Sie knauserten und sparten und waren auf jeden Pfennig Nebenverdienst gierig erpicht... SRECHERIN Oskar Maria Graf beschreibt, warum die transalpini als Arbeitskräfte so beliebt waren: sie waren zuverlässig, anspruchslos und bereit, die unbeliebte, harte Arbeit zu leisten. Zudem waren sie durch ihre mangelnden Deutschkenntnisse und ihren immer nur saisonalen Einsatz isoliert. Daher wurden sie gerade auf Baustellen immer wieder als Streikbrecher und Lohndrücker eingesetzt, wo sie teilweise durch Polizei von den einheimischen Arbeitern abgeschirmt werden mussten. Denn sie machten sich dadurch natürlich nicht beliebt. Die Bezeichnung "Furlan", eigentlich nur die Bezeichnung für eine Person aus dem Friaul, wurde in deutschen Maurerkreisen sogar ein Synonym für einen Streikbrecher. SPRECHER Graf spricht auch die Sparsamkeit der transalpini an. Sie gaben kaum etwas für sich selber aus, denn sie wollten möglichst viel Geld mit zurück nach Hause nehmen. Das trug in der Tat Früchte. Der Lebensstandard in der Heimat besserte sich, denn die Wanderarbeiter brachten nicht nur ihr Geld, sondern auch ihr Wissen und ihre Fertigkeiten mit ins Friaul. Die Schattenseite war jedoch, dass sie über ein halbes Jahr zuhause fehlten - ein geregeltes Familienleben war mit monatelang abwesenden Familienvätern nur schwer möglich, und die Arbeit in der Landwirtschaft mussten die Daheimgebliebenen stemmen. SPRECHERIN Eine weitere Schattenseite war der gestiegene Bierkonsum der Heimgekehrten. Oft wurde auf den bayerischen Ziegeleien Bier ausgeschenkt, und viele transalpini wollten es auch während der Wintermonate in der Heimat nicht mehr missen. Die Brauereien im Friaul steigerten ihre Produktion zwischen 1890 und 1914 um das Neunfache. Gleichzeitig stieg die Anzahl der Todesfälle durch Alkohol rasant an. Besonders beunruhigend war, dass gerade die Kinder und Jugendlichen, die aus Bayern zurückkehrten, sich das Biertrinken angewöhnt hatten. MUSIK 9 Gerd Baumann & Ensemble: Neon poetry 1‘21 SPRECHER Wie viele transalpini in Bayern arbeiteten, lässt sich nur ungenau feststellen, Schätzungen gehen von zwölf- bis fünfzehntausend Personen für eine Sommersaison aus. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs kam die Massenwanderung schlagartig zum Erliegen. Die Italiener, die sich gerade zur Saisonarbeit in Bayern aufhielten und im August 1914 von der Kriegserklärung überrascht wurden, kehrten überstürzt nach Hause zurück. Angetrieben von der Furcht, dass eine Rückkehr später nicht mehr möglich sein könnte. Es gab Unruhen und Staus in vielen Grenzorten, so auch in Kufstein, ein Nadelöhr für die transalpini, die von Bayern ins Friaul zurück wollten. Oder mussten: Denn viele transalpini erhielten einen Einberufungsbefehl. Aus Zieglern wurden nun Soldaten. Das Kriegerdenkmal in Buja zählt 101 Ziegler auf, die im Ersten Weltkrieg gefallen sind. SPRECHERIN Und so kam die lange Tradition der Arbeitsmigration von Italien nach Bayern zum Erliegen. Erst gute vier Jahrzehnte später, in der Wirtschaftswunderzeit, schloss die junge Bundesrepublik ein Abkommen über Arbeitswanderung mit Italien. Dabei zeigte sich, dass beide Seiten noch stark auf die Erfahrung der transalpini vor dem Ersten Weltkrieg zurückgriffen, was eine Illusion der Rückkehr anbetraf. Vor allem die Bundesregierung glaubte, dass die sogenannten Gastarbeiter saisonal oder nach Konjunktur zu steuern wären, weil man sich noch an der zyklischen Arbeitsstruktur des Kaiserreichs orientierte. MUSIK 10 Iso 68: Diffusion capricc. 0’47 SPRECHER Was bleibt von Jahrzehnten der Arbeitsmigration? Nur wenige transalpini ließen sich auf Dauer in Bayern nieder. Doch ihr Vermächtnis findet sich in den Bauten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, vermauert in Häusern und Schulgebäuden, Kirchen und Kasernen, Krankenhäusern und dem unterirdischen Kanalnetz der Städte.…
Die Straßenverbindung über den Brenner ist völlig überlastet. Abhilfe soll der Brennerbasistunnel schaffen. Seit 2007 wird an der 64 km langen Eisenbahnstrecke unter den Alpen gebaut. Das Projekt ist allein schon durch seine Dimensionen eine Herausforderung. Von David Globig. Credits Autor dieser Folge: David Globig Regie: Kirsten Böttcher Es sprachen: Rahel Comtesse, Clemens Nicol Technik: Ursula Kirstein Redaktion: Yvonne Maier Im Interview: Andreas Ambrosi, Pressesprecher der BBT SE, der Projektgesellschaft für den Brennerbasistunnel Romed Insam, Projektleiter Geologe Kurosch Thuro, Lehrstuhl für Ingenieurgeologie an der Technischen Universität München David Salameh, Tunnelbohr-Experte von der FLORA Tunneling GmbH Diese hörenswerte Folge von Radiowissen könnte Sie auch interessieren: Ingenieurskunst Tunnelbau - Wege durch den Stein JETZT ENTDECKEN Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir: ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN Spannende Berichte über aktuelle Forschung und Kontroversen aus allen relevanten Bereichen wie Medizin, Klima, Astronomie, Technik und Gesellschaft gibt es bei IQ - Wissenschaft und Forschung: BAYERN 2 | IQ - WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG Linktipps: Die BR-Sendung Kontrovers hat auch die Baustelle des Brennerbasistunnels besucht HIER Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER . Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: SPRECHERIN: Der Brennerpass zwischen Österreich und Italien: einer der wichtigsten Alpenübergänge, die es gibt. Allein über den Brenner rollt mehr Verkehr, als über sämtliche Alpenpässe Frankreichs und der Schweiz zusammen. ZSP 02 GERÄUSCH Sattelzug fährt vorbei, darüber: ZSP 03 GERÄUSCH Sekundenzeiger, darüber: SPRECHERIN: Neben 14 Millionen PKW donnern jedes Jahr 2,5 Millionen LKW über die Brennerautobahn. Das sind etwa 7.000 pro Tag. Im Durchschnitt ein Sattelzug alle zwölf Sekunden. ZSP 03 GERÄUSCH Sekundenzeiger kurz hoch, dann darüber: ZSP 02 GERÄUSCH Sattelzug fährt vorbei, darüber: SPRECHERIN: Und die Zahl der Fahrzeuge steigt immer weiter. Um die baufällige Strecke zu entlasten - und gleichzeitig auch die anliegenden Ortschaften -, soll möglichst viel Verkehr auf die Schiene verlagert werden. Doch die alte Bahnstrecke hat ebenfalls die Grenzen ihrer Kapazität erreicht. Die Alternative: eine neue, schnellere Strecke - unter den Alpen hindurch - der Brennerbasistunnel. Wenn er fertig ist, wird er die längste unterirdische Eisenbahnverbindung der Welt sein. MUSIK, darüber: SPRECHERIN: Der Weg zur Tunnelbaustelle bei Innsbruck führt erst einmal in den Umkleideraum des Baubüros. Andreas Ambrosi, Pressesprecher der BBT SE, der Projektgesellschaft für den Brennerbasistunnel, stellt die Ausrüstung zusammen. ZSP 04 O-TON Ambrosi 1, Teil 1: "Jetzt brauchen Sie Stiefel, Warnweste. Das wäre ein Tracker. Den muss jeder haben, damit der Leitstand hier orten kann, wie viele Personen drin sind bei einer Evakuierung, wo sie sind. Dann ein Helm." SPRECHERIN: Und eine Lampe. Zuletzt greift Andreas Ambrosi noch nach einem kleinen Rucksack in einem der Regale. ZSP 05 O-TON Ambrosi 1, Teil 2: "Und was wir noch mitnehmen, ist so ein Selbstretter." SPRECHERIN: Der enthält eine Sauerstoff-Flasche sowie Mundstück und Nasenklemme. Damit hat man für etwa 90 Minuten Atemluft, falls sich ein Tunnelabschnitt mit Rauch füllen sollte. Durch den Zufahrtstunnel Ahrental geht es dann mit dem Auto in den Berg hinein. Am Steuer sitzt Romed Insam, der Projektleiter für diesen Bauabschnitt. Nach rund 2,5 Kilometern kreuzt die unterirdische Straße eine andere Tunnelröhre – das, was später der eigentliche Brennerbasistunnel sein wird. ZSP 06 O-TON Insam 15, Teil 1: "Also, wir sind jetzt im Bereich der sogenannten Weströhre. Hier rechts geht's Richtung Italien. Und links Richtung Innsbruck." SPRECHERIN: Auf beiden Seiten blickt man jeweils in einen Tunnelabschnitt. Bis zur italienischen Grenze sind es von hier aus rund 25 Kilometer, bis zum Tunnelausgang in Südtirol etwa 50. Der Projektleiter lässt den Wagen ein Stück vorrollen. ZSP 07 O-TON Insam 15, Teil 2: "Jetzt hier, ziemlich genau unter uns, befindet sich der Erkundungsstollen, ca. 12 m tiefer. Wir fahren jetzt weiter und kommen in die sogenannte Oströhre." SPRECHERIN: Sie verläuft parallel zur Weströhre – in einem Abstand von etwa 70 Metern. Weströhre, Erkundungsstollen, Oströhre: Der Brennerbasistunnel besteht aus insgesamt drei Tunnelröhren. Durch die Weströhre werden die Züge von Süden nach Norden fahren, also von Italien nach Österreich, durch die Oströhre in die Gegenrichtung. Hinzu kommen noch Querverbindungen zwischen den Hauptröhren; außerdem Zufahrtstunnel, drei unterirdische Nothaltestellen und noch einiges mehr, erklärt Romed Insam. ZSP 08 O-TON Insam "230 km": "Die Anlage ist sehr, sehr komplex. Also insgesamt beinhaltet die Anlage ca. 230 km an Tunnelbauwerken." SPRECHERIN: Und ist damit von den Dimensionen her noch einmal deutlich größer als etwa der Gotthard-Basistunnel in den Schweizer Alpen. Entsprechend lange hat es gedauert, bis die Arbeiten beginnen konnten. MUSIK, darüber: SPRECHER: Tunnel statt Pass - Eine alte Vision nimmt konkrete Formen an MUSIK kurz hoch, dann unter den nächsten Worten weg SPRECHERIN: Schon Mitte des 19. Jahrhunderts hat man erstmals darüber nachgedacht, unter dem Brennerpass hindurch einen Eisenbahntunnel zu bauen. Die Bahnstrecke, die ab 1860 errichtet wurde, führte dann aber doch ganz normal über den Pass. Anfang der 1970er Jahre griff man die Tunnel-Idee allerdings wieder auf: Bis 1989 entstanden mehrere Machbarkeitsstudien. Im Jahr 2004 unterzeichneten Österreich und Italien schließlich einen Staatsvertrag über die Errichtung des Tunnels. Eines Tunnels, der nicht nur diese beiden Länder verbindet, sondern der eine wichtige Rolle für den Verkehr zwischen Nord- und Südeuropa insgesamt spielen soll. Relativ rasch folgten dann die nächsten Schritte. ZSP 09 O-TON Insam "Bau ab 2009": "Die Genehmigungsphase bzw. die Einreichphase hat zwischen 2005 und 2009 gedauert. Und ab 2009 ist hier auf der österreichischen Seite auch gebaut worden." SPRECHERIN: Nachdem man auf der italienischen Seite bereits 2007 begonnen hatte – gut ein Jahr nach dem symbolischen ersten Spatenstich. 55 Kilometer liegen zwischen dem Tunnelportal Innsbruck und dem Portal Franzensfeste/Fortezza in Südtirol. Außerdem wird der Tunnel unterirdisch an die bereits bestehende Eisenbahnumfahrung Innsbruck angeschlossen. Das ergibt insgesamt: 64 durchgehende Tunnel-Kilometer. Man ist mit dem Bau allerdings nicht ins Unbekannte gestartet. Das betont auch Pressesprecher Andreas Ambrosi. Den eigentlichen Tunnelbau-Arbeiten gingen umfangreiche Untersuchungen voraus. ZSP 10 O-TON Ambrosi "Probebohrungen": "Wenn ich das Gebirge durchfahre oder unterfahre – man weiß ja wirklich nicht, was auf einen zukommt. Daher wurde in diesem Projektgebiet bis zu 40 km an Probebohrungen geleistet. Diese Probebohrungen haben einen Durchmesser gehabt, das waren ca. z.T. drei bis vier Zentimeter. Das sind sogenannte Bohrkerne. Und anhand dieser Bohrkerne hat man dann gesehen, wie das Gestein ist. Ob hier Quarz drin ist, ob es andere Sedimente gibt." SPRECHERIN: Denn vom Gestein und seinen Eigenschaften hängt unter anderem ab, welche Tunnelbau-Techniken man einsetzen kann, und welche Maschinen geeignet sind, erklärt der Geologe Kurosch Thuro. Der Professor hat den Lehrstuhl für Ingenieurgeologie an der Technischen Universität München inne. ZSP 11 O-TON Thuro "Festigkeit": "Viele denken ja, wenn das Gebirge sehr fest ist, so eine hohe Festigkeit hat, und damit auch sehr stabil ist, dass das dann der günstigste Fall ist. Und dass, wenn die Steine eine geringe Festigkeit aufweisen, z.B. Ton, Schluff, Mergel, Sande, Kiese, dass das ganz schlecht ist für den Tunnelbau. Die Wahrheit ist, eigentlich sollte es, wenn es günstig sein soll, möglichst gleichmäßig sein." SPRECHERIN: Bauen kann man Tunnel jedenfalls sowohl durch festes als auch durch weniger festes Gestein. Und wechselnde Festigkeiten lassen sich ebenfalls bewältigen. Dabei legt das Gestein mit der höchsten Festigkeit fest, mit welcher Technik man sich vorarbeitet, bzw. mit welchen Maschinen. Und das Gestein mit der geringsten Festigkeit entscheidet darüber, wie hoch die Stabilität eines Tunnels ist. Ob also vielleicht zusätzliche Maßnahmen notwendig sind, um die Stabilität zu erhöhen. Auch der Brennerbasistunnel führt durch ganz unterschiedliches Gestein. Im Projektbüro zeigt Andreas Ambrosi ein paar Proben. ZSP 12 O-TON Ambrosi "Gesteinsarten": "Wir haben da verschiedene Gesteinsarten eben vor uns. Z.B. einmal den Bündnerschiefer. Das ist ein sehr weichblättriges Gestein. D.h. es zerbricht auch, wenn man es in die Hand nimmt und dran herunterreißt. Dann haben wir hier auch noch den Quarz-Phyllit, das ist dieses Gestein hier. Das ist ein bisschen fester, aber auch ziemlich brüchig. Zudem haben wir noch auf der italienischen Seite Granit und Gneis. Dieses Gestein ist sehr gut. Das heißt, da hält auch eben der Tunnel besser." SPRECHERIN: Auf der österreichischen Seite ist das Gestein hingegen herausfordernder. ZSP 13 O-TON Ambrosi "Vortrieb": "In Italien fahren z.B. in allen Tunnelabschnitten die Tunnelbohrmaschinen. Das ist auf österreichischer Seite nicht möglich. Sondern wir haben z.T. eben auch den Sprengzyklus dabei. Man kann sagen: Hälfte/Hälfte. Hälfte Tunnelbohrmaschinen und Hälfte mit dem Sprengzyklus." SPRECHERIN: Also dem schrittweisen Heraussprengen von Gestein. MUSIK, unter den letzten Worten einblenden, kurz hoch, dann darüber: SPRECHER: Mit Explosionen und "Tunnelfabriken" – Wie man sich unterirdisch den Weg durch die Alpen bahnt. MUSIK kurz hoch, dann unter den nächsten Worten weg SPRECHERIN: Um eine Tunnelröhre durch den Fels zu treiben, muss man das Gestein zerkleinern und abtransportieren. Viele Jahrhunderte lang geschah das mit Hammer, Meißel und Schaufel. Ein mühsames Unterfangen, bei dem es nur zentimeterweise voranging. Moderne Methoden machen heute ein sehr viel höheres Tempo möglich, sagt Romed Insam. Da wäre zum einen: das Sprengen. (24") ZSP 14 O-TON Insam - "Sprengzyklus": "Da werden Abschnitte in der Größenordnung von circa 1,3 bis 2,2 Meter vorgetrieben. Diese Abschnitte werden gesprengt. Und im Zuge dessen wird im Nachgang eine Spritzbeton-Sicherung aufgebracht." STIMME LEICHT OBEN – BITTE ABNEHMEN SPRECHERIN: Wobei rund viermal pro Tag gesprengt wird. Das macht im Durchschnitt knapp sieben Meter, die man hier weiterkommt. Der Aufwand dafür ist groß, sagt Kurosch Thuro von der Technischen Universität München. Zuerst einmal braucht man viele Bohrlöcher im Gestein. ZSP 15 GERÄUSCH Schlagbohrer Bergbau, darüber: ZSP 16 O-TON Thuro – "Sprengen", Teil 1: "Das muss man sich vorstellen wie mit der heimischen Schlagbohrmaschine. Nur der Durchmesser ist nicht ein paar Millimeter, sondern einige Zentimeter. Das sind ungefähr so 100 bis 120 Löcher. Die werden mit Sprengstoff besetzt und dann gesprengt, im Fachjargon 'geschossen'. ZSP 17 GERÄUSCH Sprengung, darüber: ZSP 18 O-TON Thuro – "Sprengen", Teil 2: "Und dann das, was eben gesprengt wurde, wird dann herausgefahren, sprich 'geschuttert', das ist der Fachausdruck da dazu." SPRECHERIN: Indem man die Bohrlöcher geschickt anordnet und den Sprengstoff in genau festgelegten, winzigen Zeitabständen zündet, entsteht eine gleichmäßige Röhre. Andere Abschnitte des Tunnels werden jedoch nicht aus dem Gestein herausgesprengt, erläutert Projektleiter Romed Insam. ZSP 19 O-TON Insam - "Vortriebsmethoden", Teil 2: "Sondern hier sind große Tunnelbohrmaschinen unterwegs. Das sind im Prinzip fahrende Fabriken mit einer Länge hier von bis zu 160 Metern. Und diese Maschine besteht zum einen aus einem Bohrkopf, aus einem rotierenden Bohrkopf, mit Meißeln bestückt. Und dieser Tunnelbohrmaschinen hier auf dieser Baustelle wickeln ca. zwölf bis 14 Meter an Vortriebs-Länge pro Tag ab." ZSP 20 GERÄUSCH Tunnelbohrmaschine, darüber: SPRECHERIN: Dabei arbeiten sie eine Röhre mit über zehn Metern Durchmesser aus dem Gestein heraus. Die Maschinen bestehen aus Zehntausenden von Teilen – und haben ein Gewicht von mehreren tausend Tonnen. Insgesamt neun dieser riesigen Geräte sind seit Beginn der Bauarbeiten im Brennerbasistunnel zum Einsatz gekommen. Für ihren Aufbau hat man mitten im Fels Kavernen aus dem Gestein gesprengt: mit genügend Platz, um die Einzelteile zu montieren, die über Zufahrtstunnel angeliefert wurden. Mit einer normalen Bohrmaschine, wie man sie von zu Hause kennt, haben sie allerdings keine Ähnlichkeit, betont Tunnelbohr-Experte David Salameh von der FLORA Tunneling GmbH. Der eigentliche Bohrkopf ist nicht spitz und spiralförmig, sondern eine große, flache Stahlscheibe, auf der einzelne Schneidringe befestigt sind. ZSP 21 O-TON Salameh TBM: "Das heißt, wenn wir jetzt von einem Durchmesser, sage ich mal, von zehn Metern sprechen, dann sitzen da ca. 60 Schneidringe drauf oder Schneidrollen, welche sich in den Berg drücken. Und durch das Aufdrücken dieser Schneidrollen platzt das Gestein ab und fällt nach unten; und wird dann durch die Rotationsbewegung aufgenommen und nach hinten befördert." ZSP 20 GERÄUSCH Tunnelbohrmaschine unter den letzten Worten einblenden, dann darüber: SPRECHERIN: Insgesamt fallen bei den Bauarbeiten für den Brennerbasistunnel rund 21 Millionen Kubikmeter Abraum an. Das entspricht einem Würfel mit einer Kantenlänge von etwa 275 Metern. Ein paar Meter höher als das höchste Hochhaus Deutschlands, der Commerzbank Tower in Frankfurt am Main. Über ein kilometerlanges Förderbandsystem gelangt das Gestein ans Tageslicht. Um es zu lagern, hat man fünf Deponien angelegt, erklärt Andreas Ambrosi. Unter anderem im Padastertal. ZSP 22 O-TON Ambrosi – "Padastertal": "Das ist die größte Erdaushubdeponie Europas. Und hier wird ein ganzes Tal aufgeschüttet. Das kann man sich so vorstellen: Ein Tal, das zuerst eher V-mäßig war, also sehr schmal auch, wird verbreitert. Es wird circa bis zu 80 Meter aufgeschüttet und in einer Länge ca. 1,5 Kilometer." SPRECHERIN: Dadurch entsteht 80 Meter über dem ursprünglichen, schmalen Talgrund eine größere Fläche, die begrünt werden soll. MUSIK, darüber: SPRECHERIN: Doch es wird nicht nur jede Menge Material aus dem Berg herausgeholt, sondern es kommt auch einiges wieder hinein. MUSIK kurz hoch, dann darüber: SPRECHER: Ringe für die Röhre – Wie man einen Tunnel verkleidet MUSIK kurz hoch, dann unter den nächsten Worten weg SPRECHERIN: "Tunnel-Fabrik" – diese Bezeichnung für Tunnelbohrmaschinen kommt nicht von ungefähr. Während sich die gigantischen Geräte vorne noch durch den nackten Fels arbeiten, rollt der hintere Bereich der Maschine, das sogenannte "Nachlauf-System", bereits durch einen rohbaufertigen Tunnel. Möglich machen das vorproduzierte Betonteile, sogenannte Tübbing-Steine. Sie werden kreisförmig aneinandergelegt - sechs von ihnen bilden zusammen den kompletten Ring. Im Brennerbasistunnel haben diese Ringe einen Innendurchmesser von gut acht Metern. Mehrmals am Tag kommt Nachschub mit einem kleinen Bauzug, der auf provisorischen Schienen durch den Tunnel fährt. ZSP 23 GERÄUSCH Transportbahn fährt an, hupt kurz, darüber: ZSP 24 O-TON Salameh – Tübbing-Segmente: "Diese Tübbing-Segmente werden dann in den Bereich der Maschine gebracht, wo die einzelnen Segmente dann mit einem Kran aufgenommen werden, in den vorderen Teil der Maschine gefahren werden. Und werden dann durch einen speziellen Arm aufgenommen. Und dieser bringt sie dann in die entsprechende Position, ." SPRECHERIN: Für einen Teil der Röhren fertigt man die Tübbing-Steine in unmittelbarer Nähe der Tunnelbaustelle. Auf der Fläche vor den Produktionsgebäuden sind hunderte Ringsegmente aus Stahlbeton gestapelt. Jeder Bogen ca. zehn Tonnen schwer. Farbige Punkte auf dem Beton geben Auskunft darüber, ob die vorgegebenen Toleranzen eingehalten werden. Grün heißt: Der Tübbing-Stein entspricht den Anforderungen. Bei andersfarbigen Markierungen muss noch nachgearbeitet werden, erklärt Romed Insam. ZSP 25 O-TON Romed Insam – "Tübbing-Steine Toleranz" (Stereo): " jeder Stein wird millimetergenau hergestellt. Und wir haben sehr hohe Anforderungen an diese Betonfertigteile gestellt. Eben aufgrund dessen, dass diese Steine die künftige Hauptauskleidung des Tunnels dann sein werden." STIMME OBEN – BITTE ABNEHMEN SPRECHERIN: Eine Auskleidung, die die Tunnelröhre unter anderem gegen eindringendes Wasser abschirmt. Dazu verfügt jeder Tübbing-Stein über eine umlaufende Dichtung. Mehr als 50.000 Beton-Elemente kommen alleine aus der Fabrik am Zufahrtstunnel Ahrental. Um mit ihnen auch Kurven folgen zu können, gibt es leicht unterschiedlich geformte Segmente. Sie müssen nicht nur sehr präzise gefertigt, sondern auch zentimetergenau eingepasst werden. Tatsächlich ist Präzision beim Tunnelbau an vielen Stellen entscheidend. MUSIK unter den letzten Worten einblenden, kurz hoch, dann darüber: SPRECHER: Immer wieder messen - Wie man sich zuverlässig im Fels trifft MUSIK kurz hoch, dann darüber: SPRECHERIN: Wenn man einen Tunnel anlegt, genügt es nicht, dem geplanten Verlauf nur so halbwegs genau zu folgen. Dann würde man nämlich Gefahr laufen, z.B. an einer ganz anderen Stelle wieder ans Tageslicht kommen als vorgesehen. Noch haariger wird die Sache, wenn man – wie beim Brennerbasistunnel – ein System aus gleich drei Tunnelröhren hat; und sich Bautrupps von mehreren Startpunkten aus über viele Kilometer aufeinander zubewegen. Die Richtung der Tunnelröhren muss hier absolut genau stimmen. Und zwar nicht nur beim Start, sondern bei jedem Meter, den sich die Teams durch das Gestein sprengen oder bohren. ZSP 26 O-TON Romed Insam – "Vermessung", Teil 1 (Mono): "Hier wird täglich vermessen. Also, wir haben hier mehrere Vermesser vor Ort tätigt, die sogenannten Bauvermesser. Und die stecken die Trasse ab, zentimetergenau." SPRECHERIN: Im Berg haben sie allerdings keine Möglichkeit, auf Satelliten-Navigationssysteme zurückzugreifen. Deshalb müssen die Vermesser von Punkten außerhalb der Tunnelröhren ausgehen, deren Positionen genau bestimmt wurden. Auf diese Punkte beziehen sich dann die Messungen unter der Erde. Die Bauvermesser nutzen dabei Tachymeter, optische Messgeräte, mit denen sich Winkel und Entfernungen präzise erfassen lassen. ZSP 27 O-TON Romed Insam – "Vermessung", Teil 2: "Und zudem werden diese Messungen auch kontrolliert. Wir haben dann zusätzlich auch noch die Haupt-Kontrollmessungen, die zu Ostern oder zu Weihnachten durchgeführt werden. Also zu einer Zeit, wo nicht vorgetrieben wird." STIMME LEICHT OBEN – BITTE ABNEHMEN SPRECHERIN: Und deshalb z.B. kein Staub in der Luft liegt. Für die Kontrolle nutzt man Messgeräte, mit denen sich minimale Abweichungen von der vorgesehenen Richtung feststellen lassen. Den Verlauf der Röhren zu vermessen, genügt allerdings nicht: Man muss z.B. auch die Tunnelbohrmaschinen exakt steuern, sagt Dr. Gerhard Wehrmeyer. Er leitet Forschung und Entwicklung bei der Herrenknecht AG, einem der wichtigsten Hersteller von Tunnelbohrmaschinen. Wenn man die riesigen Geräte sich selbst überlässt, bewegen sie sich nämlich nicht geradeaus. ZSP 28 O-TON Wehrmeyer "Kopflastigkeit": "Unsere Maschinen bestehen aus sehr viel Stahl, die sind relativ schwer. Und vornedran hängt das Schneidrad mit dem Antrieb. D.h. die sind relativ kopflastig und wollen am liebsten immer zum Erdmittelpunkt. Und darum müssen wir von unten auch wieder mehr drücken. Und die Maschinen werden deshalb so gesteuert, dass sie immer möglichst nahe auf der Trasse sind." SPRECHERIN: Und diese Trasse steigt - von den beiden Portalen aus gesehen - im Brennerbasistunnel sogar ganz leicht bis zum Brenner an, erklärt Andreas Ambrosi. Der Grund dafür: Bergwasser, das sich im Tunnelsystem sammelt, soll selbständig zu den Portalen hin ablaufen. ZSP 29 O-TON Ambrosi "Wasserscheide": "Es geht hier auch um eine Wasserscheide, d.h. es gibt einen Scheitelpunkt am Brenner. Und hier ist dann der Punkt, wo quasi das italienische Wasser nach Italien abgeleitet wird, und das österreichische Wasser nach Österreich fließt." SPRECHERIN: Das ist zwar technisch herausfordernd – aber auch ein Politikum, das der Staatsvertrag zwischen den beiden Ländern entsprechend regelt. Wie präzise man bei der Vermessung und beim Vortrieb der Tunnelröhren gearbeitet hat, das zeigt sich beim sogenannten Durchschlag. Also dann z.B., wenn die letzten Zentimeter Gestein zwischen zwei Tunnelabschnitten durchstoßen werden. ZSP 30 GERÄUSCH Durchschlag, darüber: ZSP 31 O-TON Romed Insam – "Durchschlag" (Mono): "Wir haben einige Durchschläge gehabt, hier am Brennerbasistunnel. Und wir hatten hier Abweichungen im Zentimeterbereich. Also beim Erkundungsstollen auf einer Länge von über 20 km hatten wir z.B. in der Lage eine Abweichung von ca. 3 bis 4 cm, in der Höhe von ca. 2 cm, also sehr, sehr genau." SPRECHERIN: Präzision war auch bei einer baulichen Besonderheit des Brennerbasistunnels gefragt. MUSIK unter den letzten Worten einblenden, kurz hoch, dann darüber: SPRECHER: Auf dem Weg zum Zugbetrieb - Ein Tunnel sucht Anschluss MUSIK kurz hoch, dann darüber: SPRECHERIN: Man könnte meinen, es sei ein Leichtes, die Zugtrassen der beiden Länder am Ende zu verbinden. Aber hier liegt eine weitere Herausforderung – eine historisch gewachsene: Anders als auf den österreichischen Strecken - und genauso auf den deutschen - herrscht in Italien bei der Bahn nämlich Linksverkehr. Für Züge, die in Innsbruck halten, ist das kein Problem. Wohl aber für Güterzüge, die ohne Stopp – und möglichst auch ohne die Geschwindigkeit deutlich zu verringern – durch den Umfahrungstunnel an der Stadt vorbeigeleitet werden. ZSP 32 O-TON Ambrosi – "Seitenwechsel": "Also für die Güterzüge ist es eben so, dass die im Bereich Innsbruck dann quasi von der linken Seite auf die rechte Seite dann wechseln. D.h. zuerst sind die Haupttunnelröhren parallel, laufen parallel. Und dann quasi führt eine Tunnelröhre über die andere. Und so kann man dann von dem Linksverkehr auf den Rechtsverkehr wechseln." SPRECHERIN: Für den Anschluss an die Eisenbahnumfahrung Innsbruck tauschen also die Röhren mitsamt den Gleisen die Seiten.Bis tatsächlich Züge durch den Brennerbasistunnel fahren, wird es aber noch eine Weile dauern. ZSP 33 O-TON Ambrosi – Zeitplan: "Also wir haben jetzt noch die Rohbauphase, mit aktiven Baustellen. Diese werden dann im Jahre ca. 2028 dann abgeschlossen sein. Dann kann der Ausbau der Bahntechnik erfolgen oder der sogenannten Ausrüstung. Dann gibt es noch mehrere Monate so eine Art Probephase mit den Zügen. Und das sollte dann 2031 abgeschlossen sein. Also die ersten Züge werden dann 2032 fahren." SPRECHERIN: Deutlich später als gedacht. Ursprünglich war man hier von einem Termin in den 2020er Jahren ausgegangen. Personenzüge sollen 2032 dann mit einer Geschwindigkeit von bis zu 250 Kilometern pro Stunde durch den Tunnel rasen. Die Reisezeit wird sich dadurch erheblich verkürzen. ZSP 34 O-TON Ambrosi – Fahrtzeit komplett: "Also vom Portal Innsbruck, vom Hauptbahnhof bis zum Bahnhof Franzensfeste sind es dann ca. 20 bis 25 Min. mit dem Personenzug. Jetzt braucht man ca. 80 Min. diese Strecke eben." SPRECHERIN: Güterzüge können immerhin mit bis zu Tempo 120 durch die Tunnelröhren fahren. Das Konzept sieht einen Mischbetrieb von 80 Prozent Güterzügen und 20 Prozent Personenzügen vor. Trotz der unterschiedlichen Geschwindigkeiten sollen im besten Fall acht bis zehn Züge je Richtung gleichzeitig im Tunnel unterwegs sein können. ZSP 35 O-TON Ambrosi – "Mischbetrieb und Zugzahl": " Insgesamt nimmt der Brennerbasistunnel dann bei die 260 Züge auf, pro Tag. Auf der Bestandsstrecke sind es dann ca. bei die 136. Also knapp 400 Züge könnten diese Strecke dann benützen." SPRECHERIN: Dadurch würden sich die Transportkapazitäten mit der Bahn deutlich erhöhen. Die wesentlich kürzeren Fahrtzeiten könnten tatsächlich ein Anreiz sein, mehr Güter auf der Schiene statt auf der Straße zu transportieren. Das alles gilt allerdings nur, wenn der Tunnel entsprechend angebunden ist. ZSP 36 O-TON Ambrosi – Zulaufstrecken: "Es benötigt natürlich dann auch noch die Zulaufstrecken im Norden und im Süden. Also die nördlichen Zulaufstrecken in Deutschland. Und auch die südlichen Zulaufstrecken Südtirol und Italien." SPRECHERIN: Um den Tunnel perfekt auslasten zu können, sollen diese Zulaufstrecken zwischen München und Verona ausgebaut werden. Und genau da dürfte es noch für eine lange Zeit haken – besonders auf der Nordseite des Tunnels. Während an der südlichen Zulaufstrecke teilweise bereits gebaut wird, haben sich die Planungen in Deutschland um Jahre bzw. Jahrzehnte verzögert. Unter anderem, weil es Widerstand gegen Neubaupläne zwischen München und Kufstein gibt. Vor Anfang der 2040er Jahre wird die nördliche Zulaufstrecke deshalb wohl nicht fertig werden. Also erst rund zehn Jahre nach der geplanten Eröffnung des Brennerbasistunnels. (38") MUSIK, darüber: SPRECHERIN: Und wie sich bis dahin das Verkehrsaufkommen über den Brenner entwickelt hat, ist noch einmal eine ganz andere Frage.…
Stoff war seit der Frühzeit ein wertvolles Gut, in das lange mehr Arbeitszeit floss, als etwa in die Produktion von Nahrung. Die teuren Textilien wurden deshalb auf kreative Weise weiterverwendet - getauscht, verkauft, umgearbeitet. Von Vanessa Schneider. Credits Autorin dieser Folge: Vanessa Schneider Regie: Frank Halbach Es sprachen: Ditte Ferrigan, Peter Veit Technik: Wolfgang Lösch Redaktion: Katharina Hübel Im Interview: Prof. Dr. Franziska Neumann, Historikerin an der Technischen Universität Braunschweig, forscht zu Abfall- und Umweltgeschichte und hat den Stoffkreislauf von Textilien in der frühen Neuzeit nachverfolgt. Prof. Dr. Stephan Schlichter, Initiator des Innovationsprojekts Circular Textiles von der Technischen Hochschule Augsburg – u.a. mit der weltweit ersten Modellfabrik für textiles Recycling. Beatrix Nutz, freie Textilarchäologin, die sich mit der Wiederverwendung von Textilien aus kulturgeschichtlicher Sicht beschäftigt. Diese hörenswerten Folgen von Radiowissen könnten Sie auch interessieren: Über die Erfindung der Synthetik-Faser und ihrer Mode JETZT ENTDECKEN Mehr zu Textildesign und Textilkunt um die Jahrhundertwende JETZT ENTDECKEN Über die Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen und Arbeiter im Zeitalter der Industrialisierung JETZT ENTDECKEN Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Literatur: Roman Köster: Müll – Eine schmutzige Geschichte der Menschheit, 2024. Ein tiefer Einblick in die wechselvolle Geschichte unseres Mülls und unsere Beziehung zum Abfall. Unbedingt lesenswert! Annette Kehnel: Wir konnten auch anders – Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit, 2021. Argumente für eine Recyclingmentalität bringt Kehnel in ihrer Kulturgeschichte der Nachhaltigkeit. Lothar Müller: Papier, 2014. Die Geschichte des Papiers – sehr schön erzählt. Dieter Veit: Geschichte der Textilherstellung. Technologien, Erfindungen, Handel, Mode – von der Steinzeit bis heute, 2024. Veit zeichnet auf fast 900 Seiten die gesamte Geschichte der Textilproduktion nach. Umfassende Grundlagenlektüre Linktipps: Über die Textilfunde aus der Hallstätter Salzmine können Sie sich hier weite r informieren Hier sehen Sie die Patchwork-Tunika des Mannes von Bernuthsfeld Das Recycling Atelier des Intituts für Textiltechnik Augsburg (ITA) und der Technischen Hochschule Augsbur g HIER Die Abfallstatistik des Statistischen Bundesamtes zu Textilabfällen HIER Der NABU hat das Potenzial von Textilrecycling in Deutschland analysiert HIER Wie der Gebrauchtwarenhandel in der Antike ausgesehen haben könnte, zeigt Titus Petronius in seiner satirischen Fiktion “Satyricon”. Hier in der Übersetzung von Egon und Gisela Gottwein. Die komplette Kleiderordnung von Kaiser Maximilian I. aus dem Jahre 1518 lesen Sie hier Allessandro Piccolominis: “La Raffaella – Gespräch über die feine Erziehung der Frauen” finden Sie hier Bernhard Ramazzini's ehemaligen Professor primarius der Arzneywissenschaft zu Padua Abhandlung von den Krankheiten der Künstler und Handwerker von 1700 HIER Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER . Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: ERZÄHLERIN Kleidung und Stoffe waren über viele Jahrhunderte teures Gut, zum Teil unerschwinglicher Luxus. Viel zu wertvoll, um einfach weggeworfen zu werden. Auf kreative Art und Weise haben Menschen zu den unterschiedlichsten Zeiten Textilien weiter- und wiederverwertet, getauscht, verkauft, umgearbeitet – bis sie Lumpen waren – und selbst dann erfüllten sie noch einen Zweck: von der Steinzeit, über die Antike – bis ins Zeitalter der Industrialisierung und darüber hinaus. Und heute? Allein 2023 haben deutsche Haushalte 175.000 Tonnen Textilien in den Altkleidercontainer entsorgt laut Statistischem Bundesamt, Tendenz steigend. 00 OTON SCHLICHTER Recycle Fasern, die aus dem Gebrauch herausgenommen werden, also Altextilien, werden nur zu 1% wieder zu Fasern. ERZÄHLERIN Glas und Papier können aufbereitet werden und erhalten ein zweites Leben. Für Textilien gilt das aber nicht. Ein Teil wird zwar immerhin noch zu Lappen, Vlies oder Dämmstoffen verarbeitet, minderwertige Stoffe, so genanntem Downcycling. Meistens aber werden sie verbrannt – und dann ist die Ressource einfach weg. Doch es gibt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die das ändern wollen – wie Stefan Schlichter: MUSIK ENDE 01 OTON SCHLICHTER Ballen Hier stehen überall Ballen mit Material, die hier angekommen sind.... ERZÄHLERIN Schlichter ist Professor für Textiltechnik an der Technischen Hochschule Augsburg. 02 OTON SCHLICHTER Labor 1 Das ist unser Labor. In dem Labor wollen wir spezielle Sachen feststellen, wie unser Material zusammengesetzt ist. Ist da Baumwolle drin, ist da Polyester drin? Aber wir wollen auch wissen, wie lang sind die Fasern? ERZÄHLERIN Schlichter hat die weltweit erste zirkuläre Modellfabrik für Textilabfälle initiiert – das Recycling Atelier in Augsburg. Gemeinsam mit der RWTH Aachen und einigen Maschinenherstellern erforscht er seit 2022, wie aus Altkleidern und Produktionsabfällen neue Produkte entstehen könnten. ATMO Modellfabrik 03 OTON SCHLICHTER Labor 2 Wenn ich ein hochwertiges Hemd habe, also da könnte ich auch immerhin noch ein gutes Polohemd draus machen oder so. Und das versuchen wir hier festzustellen, wenn wir die Materialien aufreißen, wie viel Schädigung haben wir denn, weil das Material wird nicht automatisch besser, sondern es wird eher ein bisschen schlechter. ERZÄHLERIN Im Recycling Atelier beschäftigt sich Stefan Schlichter unter anderem mit dem so genannten mechanischen Recycling. Das Problem, das es dabei nämlich bislang gibt, ist, dass die maschinelle Verarbeitung die Fasern der Alttextilien beschädigt. Dann sind sie oft so kurz, dass sie nicht mehr zu neuem Garn weiterverarbeitet werden können. Eine weitere Herausforderung: Anders als Glas oder Papier bestehen die meisten Textilien nicht nur aus einem Material. Früher wurden Textilien hauptsächlich aus natürlichen Stoffen gefertigt – heute kommt ein hoher Anteil an Chemiefasern dazu. 04 OTON SCHLICHTER Probleme Und die machen natürlich das Recycling und die Verwertung schwieriger, ganz ohne Frage. Wir haben Reißverschlüsse, gab es vor 100 Jahren noch gar nicht so richtig. Wir haben Embleme draufgedruckt. Deswegen setzen wir in der Sortierung KI ein, die uns sagen kann, da ist ein zusätzliches Produkt, das sollten wir lieber rausschneiden und separat behandeln, das können wir dann automatisieren. ATMO Schneideeinrichtung Textilfabrik ERZÄHLERIN Eine Schneideeinrichtung hackt die Textilien in kleine Stücke und Streifen. Die Reißmaschine zerreißt sie dann mit scharfen Metallzähnen in kleine Faserstücke. Die werden von zwei Walzen mit scharfen Haken gegeneinander gebürstet bis nur noch flauschige Fasern übrig sind – sie werden „kardiert“, heißt es in der Fachsprache. Und dann zu Bändern aufgewickelt. ATMO Spinnerei Am Ende spinnt daraus eine Maschine neues Garn für einen Pullover. 05 OTON SCHLICHTER Garn Das ist Baumwolle, eine Mischung aus Rohbaumwolle und recycelt. Um die Qualität hinzukriegen, kann man noch nicht alles 100% recyceln. Diese sind reine Recycle-Garne, diese grauen hier... MUSIK privat Take 004 „In Your Head Now”; Album: Multi Faith Prayer Room; Label: Because Music – BEC561138; Interpret: Brandt Brauer Frick; Komponist: Brandt Brauer Frick; ZEIT: 01:10 ERZÄHLERIN Die Menge an Textilabfällen steigt weiter – Fast Fashion ist nach wie vor beliebt: 2030 werden voraussichtlich sechzig Prozent mehr Alttextilien anfallen als noch 15 Jahre zuvor, das schätzt die gemeinnützige Organisation Global Fashion Agenda, die sich für Nachhaltigkeit in der Modeindustrie einsetzt. Gleichzeitig werden Rohstoffe wie Baumwolle immer knapper. 06 OTON SCHLICHTER Zukunft Wir müssen irgendwann aus dieser Schleife raus. Und vielleicht können wir mit guten Produkten aus Recycling das tun. ERZÄHLERIN Noch sind die meisten Recyclinganlagen nicht für Textilrecycling ausgerüstet. Und es ist teuer: Da die automatisierte Sortiertechnologie noch nicht marktreif ist, müssen Textilien nach wie vor von Hand vorsortiert werden. Das könnte sich ändern, wenn 2030 die ersten Prototypen aus dem Recycling Atelier industriell zum Einsatz kommen. Eine Vision, die greifbar scheint. Und alles andere als abwegig. Denn über viele Jahrhunderte war genau das schonmal Normalität: Textilien zu recyceln. MUSIK ENDE MUSIK „Lyra and cithara“; ZEIT: 00:45 ERZÄHLERIN Bis zur Industrialisierung wurden Textilien in aufwendiger Handarbeit hergestellt. Die meisten Menschen trugen selbstverständlich alte, gebrauchte und ausgebesserte Kleidung und hätten sich oft mehr gar nicht leisten können. Und das schon beispielsweise in der Antike. Die Toga eines Römers etwa bestand aus bis zu zwanzig Quadratmetern Stoff. Das bedeutete: 40 Kilometer Garn. Das zu weben dauerte einen Monat. Vier Monate, um das Wollgarn dafür zu gewinnen – bei acht Stunden Arbeit am Tag. In der Regel machten das die römischen Frauen selbst zu Hause. MUSIK ENDE 07 OTON NUTZ Stunden Wenn man heute diese Arbeitsstunden bezahlen müsste, wären diese Textilien absolut unerschwinglich bei diesen heutigen Löhnen. Und natürlich, wenn man so viel Arbeitsstunden in etwas investiert, dann schmeißt man es nicht einfach weg, sondern man nutzt es bis zum Geht-nicht-mehr. ERZÄHLERIN Beatrix Nutz ist Textilarchäologin und beschäftigt sich mit historischen Recyclingpraktiken. Selbst in Fetzen hatte alte, ausgediente Kleidung in frühen Gesellschaften noch einen Nutzen. Das legen auch einige der seltenen urgeschichtlichen Textilfunde nahe: In Prilep, Nordmazedonien haben Archäologinnen der Universität Skopje Tonscherben aus dem 6. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung gefunden, auf denen Abdrücke von ausgefransten und abgenutzten Textilgeweben zu sehen waren. In der Steinzeit recycelten Menschen ihre Textilreste offenbar zum Töpfern – um darin Gefäße zu trocken, als Unterlage und Modellierhilfe. Stoffe konnten so am Ende ihres Lebenszyklus noch als Werkzeuge nützlich werden. Auch in einer Salzmine im Österreichischen Hallstatt zur Eisenzeit: Lumpen und Fetzen von wollenen Gewändern, Decken und Säcken wurden wohl in der Siedlung gesammelt und im Berg weiterverwendet oder zu Handledern verarbeitet. Beatrix Nutz: 08 OTON NUTZ Hallstatt In den Bergwerken, da hat man dann die alten Sachen in Streifen gerissen und diese Textilstreifen dann verwendet, um zum Beispiel Kienspanbündel zusammenzubinden. Und die findet man heute noch, diese Textilstreifen mit den Knoten drinnen zum Zuknoten dieser Bündel. MUSIK privat Take oo6 „Vindavla”; Album: Skald; Label: By Norse Music – BNM014CD; Interpret: Wardruna; Komponist: Traditional; ZEIT: 01:02 ERZÄHLERIN Das sind nicht die einzigen archäologische Funde, die darauf hinweisen, dass durch die Jahrtausende Textilien kreativ wiederverwendet wurden. Im Bernuthsfelder Moor in Ostfriesland zum Beispiel, zeigt der Fund einer Moorleiche aus dem frühen Mittelalter, dass auch schon vor rund 1.200 Jahren upgecycelt wurde: Die Moorleiche trug eine Patchwork-Tunika aus zwanzig unterschiedlichen Geweben und 45 einzelnen Stoffresten. Getragen, immer wieder ausgebessert und geflickt begleiteten Textilien in dieser Zeit den Menschen oft ein Leben lang. Und am Ende dieses Menschenlebens rüsteten Textilien ihn für die letzte Reise – als Bekleidung, aber auch als Verpackungsmaterial anderer Grabbeigaben. Spuren von Läusen, Flicken und abgewetzte Stellen deuten darauf hin, dass diese vor dem Begräbnis als Kleidung getragen und als Totentracht wiederverwendet wurden. MUSIK ENDE ERZÄHLERIN Auch Funde aus dem Mittelalter zeigen: Mit der Christianisierung wurden die meisten Verstorbenen in einem Totentuch, oft aus recyceltem Leinenstoff, beigesetzt. Die von ihnen hinterlassenen Leinen- und Wollgewänder spendeten die Angehörigen seit dem Mittelalter oft an Klöster und Kirchen - als Akt der Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Diese gaben die Kleiderspenden als Almosen an Bedürftige weiter, verkauften sie, oder stellten Alltagstextilien und Kleidung für die Geistlichen daraus her. Häufig wurden zum Beispiel die oftmals prächtigen Frauenkleider zu liturgischen Gewändern männlicher Priester recycelt. Davon berichten zum Beispiel Quellen aus dem Spätmittelalter: In seiner Familienchronik schreibt der Florentiner Textilkaufmann Niccoló di Buono di Bese Busini über ein Kleid seiner verstorbenen Frau Raffaella: MUSIK C5036550 W04 „Notum fecit“; ZEIT: 00:24 Zitator „Ich erinnere mich, dass ich, Niccolò, am 24. Dezember der Kirche San Iacopo tra le Fosse in Florenz ein Messgewand schickte, das aus einem Kleid Raffaellas gefertigt war. Ich ließ dies im Inventar der genannten Kirche verzeichnen, zum Seelenheil Raffaellas.“ MUSIK ENDE (((selbst übersetzt vom Englischen ins Deutsche, via Isabelle Chabot: “Renaissance female luxury garments on the move”, S. 23; zitiert aus: Archivio di Stato di Firenze, from now ASFi, Carte strozziane, XIV serie, 564, fol. 30r, 63v))))) ERZÄHLERIN Bei dem Kleid, das zum Messgewand umgeschneidert wurde, handelte es sich um das samtene Hochzeitskleid seiner verstorbenen Gattin. Und das war noch nicht alles: Der Kaufmann schenkte seiner neuen Frau ein rosa Kleid mit Hermelinbesatz aus Raffaellas Besitz. Die Schwägerin erhielt ein altes, schwarzes Kleid, das sie ändern und färben ließ. Raffaellas Lieblingskleider wurden zu Bettwäsche und Bekleidung für die Kinder verarbeitet. Durch das Recyceln und die Weitergabe der gebrauchten Gewänder bewahrte man gleichzeitig das Andenken an die Verstorbene und stärkte das soziale Gewebe innerhalb der Familie – aber auch zwischen Adel und Kirche sowie den niedrigeren Ständen. Diese erhielten von Adel und Kirche gebrauchte Textilien als Almosen, aber auch als Arbeitslohn, erklärt Franziska Neumann, Professorin für frühneuzeitliche Geschichte an der TU Braunschweig. 09 OTON NEUMANN Gebraucht Das gehört so zum vormodernen Gabentausch letztendlich auch dazu. Das heißt erstmal bloß, weil es nicht mehr getragen wird von der einen Person, heißt das nicht, dass da schon das Ende als Kleidungsstück erreicht ist. Es gibt einen ganz regen Gebrauchtwarenhandel, auch mit Textilien, was auch eine Möglichkeit ist, für viele an Mode zu partizipieren, indem es immer weiter sozusagen gegeben wird. ERZÄHLERIN Trotz strenger Kleiderordnungen, die den Gesellschaftsständen genau vorschrieben, wer was tragen durfte. Beatrix Nutz: 10 OTON Nutz Unverboten Da gibt es dann sogar von 1518 eine Kleiderordnung von Kaiser Maximilian I., Zitator „…und was ihnen ihre Herren von Kleidung schenken, soll ihnen zu tragen unverbothen seyn.“ 10 OTON NUTZ Unverboten weiter der also explizit sagt, die Landsknechte, wenn die von ihrem Herrn was geschenkt bekommen an Kleidung, das ja dann über ihrem Stand wäre, weil es ja herrschaftliche Kleidung ist, dürfen sie es, weil sie es geschenkt bekommen haben, trotzdem tragen, auch wenn es über ihrem Stand ist. ERZÄHLERIN So blieben Kleidungsstücke in der Vormoderne über lange Zeit erhalten und zirkulierten durch mehrere Hände und Gesellschaftsschichten. Franziska Neumann: 12 OTON NEUMANN Stewardship Es gibt den Begriff der Stewardship of Objects, also dass es eine Kultur gab, pflegsam mit Dingen umzugehen. Und das galt auch für Textilien. Es gibt ganz viele Handbücher, die beschreiben, wie müssen Textilien gelagert werden? Was kann man machen, um zu verhindern, dass sie sich abnutzen, ausbleichen oder Ähnliches. Und ich glaube, das ist schon ein ziemlich großer Unterschied zwischen der Vormoderne und der Moderne. ERZÄHLERIN Diese Fürsorgepflicht für den Besitz wurde über Jahrhunderte praktiziert. Das ständige Nähen, Ausbessern, Flicken, Umschneidern und Färben alter Kleidung zog aber auch Spott auf sich. So schreibt der Gelehrte Alessandro Piccolomini 1539 in seiner Satire “La Raffaella - Gespräch über die feine Erziehung der Frauen” über eine Frau aus Siena, die sich auch nach Jahren nicht von ihrem Hochzeitskleid aus gemustertem Damast trennen wollte: MUSIK CD234470 007 „Saltarello“; ZEIT: 00:13 ZITATOR Als es schon recht schmutzig geworden war, ließ sie es wenden, so dass das Innere nach außen kam, und so trug sie es Sonntag für Sonntag noch fünf Jahre. MUSIK ENDE 13 OTON NUTZ ausbessern Man hat es gewendet. Dazu hat man den Altschneider aufgesucht. Manchmal nennt man das auch Wendeschneider. Der hat es tatsächlich dann alle Nähte sorgfältig aufgetrennt, die Außenseite nach innen gekehrt. Weil die Innenseite war ja nicht ausgebleicht und nicht abgewetzt. Und das Kleid war dann wieder faktisch wie neu. MUSIK CD234470 007 „Saltarello“; ZEIT: 00:25 ZITATOR Als es nun schon ganz abgewetzt war, ließ sie es brustbeerenfarbig färben, damit es aussähe, als hätte sie ein neues Kleid. Einige Jahre darauf aber riss der Stoff überall und nun zertrennte sie das Kleid und machte aus einem Stück des Stoffes Fransen für einen violetten Rock, aus einem andern Ärmelaufschläge. MUSIK ENDE ERZÄHLERIN Doch was passierte mit dem, was nach Jahren und Jahrzehnten der Nutzung und Wiederverwendung von einem Kleidungsstück am Ende noch übrig war? 14 OTON NEUMANN Lumpen Irgendwann sozusagen wird es tatsächlich zu einem Fetzen, der dann erstmal als Putzlappen vielleicht noch gebraucht wird. In den Haushaltsratgebern steht immer, ja, man soll so ein kleines Kästchen haben, wo man das aufbewahrt, kann man für unterschiedliche Sachen nutzen. Und dann irgendwann ist es vorbei. MUSIK privat Take 006 “On Powdered Ground (Mixed Lines)”, Album: Mr. Machine; Label: !K7 Records – !K7286CD; Interpret: The Brandt Brauer Frick Ensemble; Komponist: Daniel Brandt; ZEIT: 00:50 ERZÄHLERIN Hier schließt sich der textile Stoffkreislauf. Ab dem 14. Jahrhundert sorgte auch in Europa langsam eine bahnbrechende technologische Erfindung aus China dafür, dass auch Lumpen sinnvoll weiterverwendet werden konnten. Denn für die Papierherstellung wurden textile Reste nun mechanisch zu einem ganz neuen Produkt recycled. Und mit der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert stieg auch der Papierbedarf. Im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation boomte die Papierproduktion. 1450 produzierten nur etwa zehn Mühlen Papier, zwei Jahrhunderte später waren es geschätzte 200. Doch Lumpen und Hadern – aus Leinen und Hanf waren tatsächlich rar, sagt Franziska Neumann: MUSIK ENDE 15 OTON NEUMANN Lumpenmangel Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass man halt eher sorgfältig und pflegsam mit seinen Textilien umgegangen ist. Das heißt, dass man eigentlich versucht hat zu verhindern, dass überhaupt Lumpen angefallen sind. Aber das ist ein Riesenproblem. MUSIK privat Take 001 „Pestilence“, Album: Black Death; Label: MovieScore Media – MMS-10011; Interpret: Nick Ingman; Komponist: Christian Henson; ZEIT: 01:31 ERZÄHLERIN Lumpenedikte versuchten dem Mangel entgegenzuwirken. Doch der gefragte Rohstoff wurde weiter außer Landes geschmuggelt – zu Mühlen nach Holland oder England, die viel Geld dafür bezahlten. Gesetze und Erlässe im gesamten Reich regelten, wer wo sammeln durfte und für welche Papiermühle. Ab 1763 mussten sich Lumpensammler in Preußen mit einem Lizenzzettel ausweisen und mindestens zweimal die Woche in der Stadt von Haus zu Haus gehen. Das Lumpengewerbe war hart und die Tätigkeit von Lumpensammlern begann häufig schon mitten in der Nacht. Ausgerüstet mit einem Haken, durchstocherten sie die Fäkalien und Hausabfälle auf der Straße nach Textilien. An der Haustür tauschten sie Perlen, Flöten und Nadeln gegen Lumpen, die die Haushalte in Lumpenkästchen oder Beuteln aufbewahrten. Witwen, Handwerkerfrauen und ausgediente Soldaten besserten so ihre Haushaltskasse auf. Doch die Arbeit mit unreinen, infektiösen Abfällen wurde für viele zum gesundheitlichen Problem: Lumpen, gerade aus hellen Leinen kamen in ihrem vorherigen Leben als Unterhemden und Bettwäsche, aber auch Verbandszeug und Windeln regelmäßig mit körperlichen Ausscheidungen in Kontakt. Nicht nur, dass sich die Sammler bei der Arbeit mit Tuberkulose, Milzbrand, Pocken und Cholera anstecken und diese Krankheiten verbreiten konnten. Sie wurden auch sozial ausgegrenzt. Und das über Jahrhunderte. MUSIK ENDE 16 OTON NEUMANN Metapher Diese semantische Kopplung von „du Lump“ als Schimpfwort, das kommt dann vor allem im 19. Jahrhundert und wird da ganz groß. Und das hat auch was zu tun mit sozialer Verelendung, das hat auch was damit zu tun, dass immer mehr Leute durch das Recyclen von Abfallstoffen Geld machen, das hat auch was mit anti-jüdischen Stereotypen zu tun. Und das muss man sich immer wieder auch vergegenwärtigen, dass es sozusagen keine fröhliche, freundliche Welt des harmonischen, nachhaltigen Recyclings ist, sondern dass die soziale Dimension und auch Abwertung von Abfallarbeitern, von Drecksarbeit ein ganz wichtiger Bestandteil auch der Geschichte von Recycling ist. ERZÄHLERIN Die Lumpensammlerinnen verkauften ihre Lumpen meist an Händler, die wiederum die Papiermühlen belieferten. Dort wurden die Lumpen nach Stoffart und Farbe sortiert, von Dreck, Knöpfen und Nähten befreit und zerschnitten. Die Textilschnitzel gärten anschließend 4-8 Wochen in einem Wasserbad, wurden zerkleinert und 2 Tage lang in einem Wasserbad zu Faserbrei zermahlen. Der Brei wurde mehrfach abgeschöpft, zu einer Papierseite gepresst, getrocknet, geglättet und geleimt. MUSIK privat Take 006 “On Powdered Ground (Mixed Lines)”, Album: Mr. Machine; Label: !K7 Records – !K7286CD; Interpret: The Brandt Brauer Frick Ensemble; Komponist: Daniel Brandt; ZEIT: 00:47 ERZÄHLERIN Papier blieb nicht das einzige Recyclingprodukt, das durch die Verwertung von Textilresten angefertigt wurde. Im nordenglischen Batley wurde Anfang des 19. Jahrhunderts die erste Recyclingfaser erfunden: Shoddy, zu deutsch: Reißwolle. Gewonnen aus neuaufbereiteten, alten Wollfasern. Die Herkunft des Begriffs “Shoddy” ist unklar, heute beschreibt er eine schäbige Qualität. Die grauen Anzüge, Militärdecken und Mäntel aus Reißwolle gingen nämlich schnell kaputt. Trotzdem: Die Erfindung von Shoddy war wegweisend. Eine Vorläufertechnologie des heutigen Faser-zu-Faser Recyclings. Im Augsburger Recycling Atelier wird die Reißmaschine nun wieder optimiert, sagt Stefan Schlichter. MUSIK ENDE 18 OTON SCHLICHTER Reißmaschine 2 Sie ist auch schrittweise weiterentwickelt worden, nur ab dem 60er, 70er Jahren nicht mehr, weil der Markt zu klein war. Mit Recycling konnte man kein Geld verdienen, weil ja neue Ware herzustellen viel einfacher war. Und dann ist diese Technologie nicht gepflegt worden. MUSIK C1509860 105 „The disposition of the linen”; ZEIT: 00:44 ERZÄHLERIN Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden neue Waren immer günstiger. Die Müllentsorgung fiel in die öffentliche Hand und Holz löste Lumpen als Rohstoff für Papier ab. Bis dahin hatte das Wiederverwerten von Textilien jahrhundertelang zum Alltag dazugehört – aus Tradition oder aus der Not heraus. Eine Recycling-Mentalität will Abfall-Historikerin Franziska Neumann unseren Vorfahren trotzdem nicht uneingeschränkt attestieren. Denn diejenigen, die recycelten und diejenigen, die wegwarfen, seien nicht dieselben gewesen: MUSIK ENDE 19 OTON NEUMANN Mentalität ein primäres Interesse am Recycling haben Papiermühlen. Das sind diejenigen, die das als Rohstoff haben wollen und die das weiterverkaufen. Lumpensammler haben ein Interesse an Recycling, weil sie tatsächlich davon profitieren. Das gilt aber nicht für das Gros der Haushalte. Und deswegen finde ich es wichtig, hier nochmal zu unterscheiden, wer profitiert, wie verbreitet ist das eigentlich und gibt es auch nicht Bereiche, wo wesentlich häufiger einfach entsorgt wurde. ERZÄHLERIN Dennoch: Ein Bewusstsein für den Wert von Textilien war über Tausende von Jahren selbstverständlich. Heute ist der Trend eher gegenläufig: ATMO Recycling Atelier 20 OTON SCHLICHTER Wert Textilien werden immer weniger wert. Eine Hose hat einen Wert, der kann nicht bei 8,67 Euro liegen. Das Allerwichtigste ist, dass wir Textilien wieder Wert zugestehen. MUSIK privat Take 006 “On Powdered Ground (Mixed Lines)”, Album: Mr. Machine; Label: !K7 Records – !K7286CD; Interpret: The Brandt Brauer Frick Ensemble; Komponist: Daniel Brandt; ZEIT: 00:31 ERZÄHLERIN Stefan Schlichter vom Textilrecycling Atelier in Augsburg: 2 OTON SCHLICHTER Ausblick Und wenn wir es lernen, Alttextil als Rohstoffquelle zu sehen, wir sitzen auf einem Berg, nicht genutzter Baumwolle zum Beispiel, der größer ist als das, was Indien an Baumwolle produziert im Jahr. Wir wären der viert- bis fünftgrößte Hersteller von Baumwolle, obwohl hier keine einzige Baumwollpflanze wächst.…
Im Ramadan gilt für gläubige Muslime von der Morgendämmerung bis Sonnenuntergang nicht essen, trinken, rauchen und kein Sex. Alte, Kranke oder auch Kinder sind von der Pflicht ausgenommen. Am Ende des heiligen Monats feiern Muslime das Zuckerfest. Von Claudia Steiner (BR 2024) Credits Autorin dieser Folge: Claudia Steiner Regie: Martin Trauner Es sprachen: Katja Bürkle, Sebastian Fischer Technik: Daniela Röder Redaktion: Bernhard Kastner Im Interview: Prof. Serdar Kurnaz, Institut für Islamische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Florian Lützen, Zentrum für Islamische Theologie in Tübingen, Familie Duran aus München Diese hörenswerten Folgen von radioWissen könnten Sie auch interessieren: Sex im Islam - Liebe, Lust und Leidenschaft JETZT ENTDECKEN Mohammed - Prophet und Gründer des Islam JETZT ENTDECKEN Hagia Sophia - Kirche, Moschee, Museum JETZT ENTDECKEN Die Scharia - Kleine Kulturgeschichte des islamischen Rechts JETZT ENTDECKEN Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER . Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: ZITATOR Der Monat Ramadan ist es, in dem der Koran erstmals als Rechtleitung für die Menschen herabgesandt worden ist, und die einzelnen Koranverse als klare Beweise der Rechtleitung und der Rettung. Wer nun von euch während des Monats anwesend ist, soll in ihm fasten. SPRECHERIN Koran, Sure 2, Vers 185. MUSIK (nein) aus! SPRECHERIN Der heilige Monat Ramadan ist der einzige Monat, der im Koran namentlich erwähnt wird. Da sich der Monat nach dem Mondkalender richtet, verschiebt sich der Beginn jedes Jahr um mehrere Tage. Der Ramadan erinnert an die Offenbarung der ersten Sure des Korans durch den Erzengel Gabriel an den Propheten Mohammed. MUSIK forni 14c ZITATOR Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes. Trag vor im Namen deines Herrn, der erschaffen hat, den Menschen aus einem Embryo erschaffen hat! Trag Worte der Schrift vor! Dein höchst edelmütiger Herr ist es ja, der den Gebrauch des Schreibrohrs gelehrt hat, den Menschen gelehrt hat, was er zuvor nicht wusste.“ SPRECHERIN Koran, Sure 96, Vers 1 bis 5. Die Suren im Koran sind nicht chronologisch geordnet. Der Überlieferung nach erschien Mohammed etwa im Alter von 40 Jahren in einer Höhle auf dem Berg Hira nordöstliche von Mekka auf der Arabischen Halbinsel der Erzengel Gabriel. Der Engel ergriff ihn. Er befahl Mohammed, die Offenbarung vorzutragen. Das geschah nach islamischem Glauben im Jahr 610 - und zwar am 27. Tag des Ramadan. Noch heute gedenken Muslime und Muslimas dieser ersten Offenbarung – im Arabischen heißt sie Lailat al Qadr, ‚Nacht der Bestimmung‘ oder ‚Nacht des Schicksals‘. Wie bedeutend diese Nacht für Muslime ist, geht aus Sure 97, Vers 3 bis 5 hervor: ZITATOR Die Nacht der Bestimmung ist besser als tausend Monate. Die Engel und der Geist kommen in ihr mit der Erlaubnis ihres Herrn hinab, lauter Logoswesen. Sie ist voller Heil und Segen, bis die Morgenröte sichtbar wird. MUSIK aus SPRECHERIN Der Ursprung des Begriffs Ramadan ist nicht eindeutig geklärt – es gibt verschiedene Erklärungsansätze. Manche Experten sind zum Beispiel der Ansicht, dass es eine Ableitung von „ramdâ“ ist. So wird der reinigende Regen nach einem heißen Sommer genannt – während des Fastenmonats wird das Herz der Gläubigen gereinigt. Außerdem ist Ramadan auch einer der Namen Allahs. Auch wenn die Herkunft des Begriffs nicht abschließend beantwortet werden kann, bekannt ist, dass es auf der Arabischen Halbinsel schon vor der Verbreitung des Islams üblich war, zu fasten. Im Koran, Sure 2, Vers 183 heißt es: MUSIK „until it blazes“ ZITATOR Ihr Gläubigen! Euch ist vorgeschrieben, zu fasten, so wie es auch denjenigen, die vor euch lebten, vorgeschrieben worden ist. Vielleicht werdet ihr gottesfürchtig sein. O-TON 1 Also wir wissen aus Überlieferungen, dass schon vor der Entstehung des Islams das Fasten auf der Arabischen Halbinsel bekannt war, unter anderem durch die jüdische Tradition oder auch innerhalb der vorislamischen arabischen Stämme war es auch üblich, dass man gefastet hat. SPRECHERIN … sagt Serdar Kurnaz. (ADB? Serdar KURNASS) Er ist Professor am Institut für Islamische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. MUSIK „Sem“ SPRECHERIN Weltweit gibt es schätzungsweise mehr als zwei Milliarden Muslime – die meisten leben in Indonesien, Pakistan, Indien und Bangladesch. In Deutschland sind es mehr als fünf Millionen. Nach einer Umfrage aus dem Jahr 2020 fasten in Deutschland rund 56 Prozent der Muslime mit Migrationshintergrund. Weitere knapp 20 Prozent fasten zumindest teilweise. Das heißt: sie verzichten - wie manche Christen in der Fastenzeit - auf bestimmte Genussmittel oder sie fasten tageweise. MUSIK SPRECHERIN Der Ramadan ist der neunte Monat im islamischen Mondkalender. Das Fasten beginnt, wenn die Mondsichel gesichtet wird, heißt es in der Hadith-Sammlung, den Überlieferungen, die dem Propheten Mohammed zugeschrieben werden. Wenn der Himmel bedeckt ist, sollen die Gläubigen den Beginn des Ramadan bestimmen. MUSIK „breaker of chains“ SPRECHERIN Das Fasten zählt zu den fünf Säulen des Islam. Zu den anderen grundlegenden Praktiken gehören das Glaubensbekenntnis, das Gebet, die Armensteuer und die große Wallfahrt nach Mekka. Der Ramadan ist eine Zeit der Gegensätze: Von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang verzichten gläubige Muslime auf Essen, Trinken, Rauchen und Sex. Nachts aber ist der Genuss erlaubt. Koran, Sure 2, Vers 187: ZITATOR … und eßt und trinkt, bis ihr in der Morgendämmerung einen weißen von einem schwarzen Faden unterscheiden könnt! Hierauf haltet das Fasten durch bis zur Nacht! SPRECHERIN Weiter steht geschrieben: ZITATOR Es ist euch erlaubt, zur Fastenzeit bei Nacht mit euren Frauen Umgang zu pflegen. Sie sind für euch, und ihr für sie wie eine Bekleidung. Gott weiß wohl, dass ihr solange der Umgang mit Frauen während der Fastenzeit auch bei Nacht als verboten galt, euch immer wieder selbst betrogen habt. Und nun hat er sich euch gnädig gezeigt wieder zugewandt und euch verziehen. Von jetzt ab berührt sie unbedenklich … (…) SPRECHERIN Im Internet stellen viele Gläubige islamischen Rechtsgelehrten ganz konkrete Alltagsfragen: Ist es erlaubt, während des Fastens Deo oder Parfüm zu tragen? Verstoßen Augentropfen gegen das Fasten? Darf ich Kaugummi kauen? Bricht Küssen das Fasten? Je nach Rechtsauffassung können die Antworten unterschiedlich ausfallen. MUSIK hier erst aus SPRECHERIN Da das islamische Jahr 354 statt 365 Tage hat; verschiebt sich der Ramadan jedes Jahr um zehn oder elf Tage nach vorn und durchläuft so im Laufe der Zeit die Jahreszeiten. Im Winter, wenn es früh dunkel und spät hell wird, ist die Fastenzeit nicht allzu lang. Im Sommer dagegen sind es oft viele Stunden des Verzichts – zumal die Menschen in südlichen Ländern auch mit viel höheren Temperaturen zurechtkommen müssen, ohne, dass sie tagesüber etwas trinken dürfen. Bei 40 Grad und mehr, die im Juli und August in Ländern wie Pakistan oder im Irak durchaus erreicht werden können, kann dies sehr anstrengend werden. Eine besondere Situation gibt es in Skandinavien, wenn der Ramadan dort auf einen Sommermonat fällt und es - wie rund um Mittsommer – kaum dunkel wird. Für sie gibt es unterschiedliche Empfehlungen von Rechtsgelehrten, sagt Florian Lützen vom Zentrum für Islamische Theologie in Tübingen: O-TON 2 Manche sagen, man könne nach den Fastenzeiten von Mekka und Medina beispielsweise fasten. Andere haben die Alternative gewählt, sich am nächsten muslimischen Land in Anführungsstrichen zu orientieren. (…) Eine dritte sagt, man soll trotzdem die vollumfängliche Zeit fasten. Insofern kann sich schon das unterscheiden je nach Gemeinde und welche Auslegung diese folgt. SPRECHERIN 2024 begann der Ramadan im März. Je nach Wohnort dauert das Fasten unterschiedlich lange. Muslime in Island müssen zum Beispiel mehr als 18 Stunden fasten, in Mekka in Saudi-Arabien sind es dagegen nur rund 14 Stunden. MUSIK „breaker of chains“ SPRECHERIN Aufgrund des Verzichts im Ramadan verändert sich für viele Menschen der Tagesablauf. Gläubige stehen vor Sonnenaufgang auf, um noch einmal zu Essen und zu Trinken. Die Mahlzeit am Morgen heißt Sa(c)hur. Traditionell laufen in vielen muslimisch geprägten Ländern dann früh am Morgen Trommler durch die Straßen und wecken die Gläubigen auf, damit sie ihr Frühstück nicht versäumen. ATMO Ramadan-Trommeln (Schallarchiv) SPRECHERIN Firmen nehmen Rücksicht darauf, dass die Menschen tagsüber etwas müder sind. Die Menschen sind oft weniger produktiv. In einigen Ländern sinkt während des Ramadan sogar das Bruttoinlandsprodukt. Viele Restaurants machen tagsüber gar nicht auf – es würden sowieso keine Kunden kommen. Manche Menschen ruhen sich aus und holen tagsüber etwas Schlaf nach. Abends füllen sich die Straßen dann wieder mit Menschen. Wenn die Zeit des Verzichts vorüber ist, schallt der Gebetsruf von den Minaretten der Moscheen. In Dörfern gibt es oft nur ein Gotteshaus. In großen Städten aber erschallt der Gebetsruf von mehreren Minaretten und vermischt sich zu einem großen Chor. ATMO Gebetsruf (evtl Schallarchiv) SUCHEN oder g-Minarett SPRECHERIN Der Ruf des Muezzin lautet: ZITATOR Gott ist groß. Ich bezeuge, dass es keine Gottheit außer Gott gibt. Ich bezeuge, dass Mohammed der Gesandte Gottes ist. Auf zum Gebet. Auf zum Heil. Gott ist groß. Es gibt keinen Gott außer Gott. HALL (?) SPRECHERIN Die Menschen versammeln sich zum Gebet. Männer und Frauen haben unterschiedliche Bereiche in der Moschee, um nicht abgelenkt zu sein und sich auf das Gebet konzentrieren zu können. Beim Gebet macht jeder Muslim die gleichen Gebetsbewegungen. Man beginnt im Stehen, verbeugt sich, richtet sich wieder auf, dann kniet man nieder und berührt mit der Stirn den Boden. Danach bleibt man knieend, richtet den Oberkörper aber wieder auf. Diese Abfolge wird mehrmals wiederholt. Währenddessen sagen alle die gleichen Gebete. MUSIK „In Doubt“ ) SPRECHERIN Zum Iftar, also zum Fastenbrechen am Abend strömen Arme und Bedürftige in riesige Zelte, die oft auf öffentlichen Plätzen aufgebaut sind. Sie erhalten in der Fastenzeit jeden Abend ein kostenloses Essen. Auch Moscheegemeinden in Deutschland laden Gläubige, oft auch Vertreter anderer Religionen ein, um das Fasten gemeinsam zu brechen. Familien und Freunde besuchen sich zum gemeinsamen Fastenbrechen, auf Arabisch heißt das Abendmahl im Ramadan „iftar“. ATMO 1 SPRECHERIN Fastenbrechen bei der türkischstämmigen Familie Duran in München. Während des Ramadan ertönt bei der vierköpfigen Familie jeden Abend der Gebetsruf, den ein Wecker in Form einer Moschee abspielt. ATMO 1 SPRECHERIN Eine Ecke im Wohnzimmer ist geschmückt. „Willkommen Ramadan“, steht auf einer goldfarbenen Girlande. Auf Instagram geben sich Gläubige – wie bei uns zur Weihnachtszeit – Tipps, wie man sein Zuhause festlich gestalten kann und tauschen Rezepte aus. Auf dem Esstisch stehen bereits mit Reis und Hackfleisch gefüllte Weinblätter, Kichererbsen Püree, Fladenbrot und Krüge mit frischem Wasser. O-TON 3 Heute habe ich rote Linsensuppe gekocht, mercimek corbasi, dann habe ich Reis gemacht und hier im Ofen weiße Bohnen mit Fleisch gemacht. SPRECHERIN … erzählt Funda Duran. Bevor es jedoch all die Köstlichkeiten gibt, wird eine Schale mit Datteln herumgereicht. Der Berliner Theologe Serdar Kurnaz: O-TON 4 Das geht auf die Tradition des Propheten zurück. Es wird überliefert, dass der Prophet das Fasten mit einer Dattel gebrochen hat und dann darauf noch Wasser getrunken hat. Das hat sich als Tradition etabliert. Es gibt natürlich auch unterschiedliche Ansätze, die dann versuchen zu sagen: Ja, Dattel ist sehr nahrhaft, deswegen hat der Prophet Datteln gegessen, das hilft, es ist sozusagen ein Energiedepot für die Fastenden. SPRECHERIN Die 17-jährige Fulya, die bald ihr Abitur macht, fastet seit sie 13 Jahre alt ist. In der Regel beginnen Jugendliche mit der Pubertät zu fasten. Schwer fällt ihr das Fasten nicht, erzählt die Gymnasiastin: O-TON 5 Es fällt mir eher leicht, würde ich behaupten, weil ich generell einfach sehr wenig esse und trinke. Leider. Und ich würde sogar von mir behaupten, dass ich während dem Ramadan, so lustig es sich anhört, mehr esse und trinke als sonst, weil ich halt wirklich so am Abend wirklich dann gut und viel esse und mein Wasser vor mir hab und es auch trinke und ich Nacht es dann ebenfalls mache. Das ist auf jeden Fall mehr als ich sonst tagsüber während eines stressigen Schultags zum Beispiel essen würde. SPRECHERIN Ausgenommen vom Fasten sind Kinder, Alte, Schwangere, Stillende, Frauen, die ihre Tage haben, Reisende oder auch kämpfende Soldaten. Funda Duran ist gesundheitlich angeschlagen. Sie fastet nicht. Früher hat auch sie gefastet. O-TON 6 Es ist sehr, sehr anstrengend, gerade im Sommer - Juni, Juli, August, die Zeit – das hab‘ ich ja auch gemacht. Natürlich wenn man jung ist, und wenn man nicht krank ist, man schafft das. Ich glaube immer daran, dass der liebe Gott uns hilft. Aber natürlich - je älter man wird (…), wenn man Medikamente einnimmt und bestimmte Krankheiten hat, sagt auch der Gott, man soll den Körper nicht belasten und man soll auch nicht fasten. SPRECHERIN Es gibt klare Empfehlungen, wie man als gläubiger Mensch verfahren soll, wenn man nicht fasten kann oder krank wird. Florian Lützen: O-TON 7 Wenn man während dem Ramadan krank wird und nicht fasten kann, sollte das zum nächstmöglichen Zeitpunkt nachgeholt werden, bis zum nächsten Ramadan. Falls das nicht möglich ist, (…) kann auch eine Spende an die Stelle dessen treten. SPRECHERIN Die Ersatzspende ist in Höhe von der Speisung eines Armen für einen Tag angesetzt. Viele Kinder fiebern auf den Zeitpunkt hin, bis sie alt genug sind, um zu fasten, sagt der Berliner Theologe Serdar Kurnaz: O-TON 8 Innerhalb der muslimischen Community ist das Fasten schon etwas, worauf Kinder oder Jugendliche sehr stolz sind. Die wollen das auch selber tun. Da gibt es auch so Möglichkeiten, so spielerisch die Kinder an das Fasten herantasten zu lassen, also zum Beispiel jüngere Kinder, denen würde man sagen: Ja, faste bis 2 Uhr. Und dann darfst du mal zwischendurch essen. Jeder weiß, dass es jetzt kein gültiges Fasten ist. Aber es geht ja nicht darum, sondern darum, dass die Kinder auch diese Möglichkeit haben, weil dieses Kollektivgefühl zu fasten und gemeinsam das Fasten zu brechen und einen Zustand zu erreichen, wo man noch besonders darauf bedacht ist, was man tut, was man sagt. (…) Das ist schon ein Anreiz für die Kinder. (hängt) SPRECHERIN Manchmal verzichten Kinder, die noch nicht fasten, im Ramadan zum Beispiel auf Süßigkeiten. Fulyas kleiner Bruder Deniz geht noch in den Kindergarten. Er ist tatsächlich noch zu jung zum Fasten. Deshalb hat sich seine Mutter Funda für ihn etwas Besonderes ausgedacht. Sie hat eine Schachtel mit buntem Papier verziert. Jeden Abend nach dem Fastenbrechen darf Deniz zusammen mit seiner Familie ein Holzstäbchen in die Box werfen. ATMO 2 (etwas stehen lassen, dann drüber) Auf jedem Stäbchen steht eine gute Tat wie zum Beispiel: Ich habe nicht gelogen. Ich war heute lieb. Ich habe Mama oder Papa geholfen. Ich war geduldig. Auch seine Eltern und seine Schwester werfen je ein Stäbchen mit ihrem Namen und der guten Tat in die Schachtel. Die Idee hat Funda aus einem Buch. O-TON 9 Das machen wir alle zusammen nach dem Fastenbrechen, da überlegen wir, was haben wir heute Gutes gemacht und dann suchen wir das hier raus, in die Kiste rein… und dann machen wir nach Ende der Ramadan auf und sehen wir alle Stäbchen und sehen, wer von uns ganz viele Sachen geleistet hat. SPRECHERIN Inzwischen gibt es auch viele Kinderbücher mit Gute-Nacht-Geschichten zum Ramadan und viele Familien denken sich neue Bräuche aus so wie die Familie Duran. Serdar Kurnaz: O-TON 10 Es ist eigentlich sehr individuell ausgeprägt, aber ich beobachte auch in Deutschland vermehrt zum Beispiel, dass es Ramadan-Kalender gibt wie einen Adventskalender. Also es etablieren sich mittlerweile Dinge, auf die man sich aufgrund der geteilten Erfahrungen und aufgrund der geteilten Prägung auch in Deutschland, dass man auch Möglichkeiten versucht, auszutarieren, um die Kinder noch stärker miteinzubeziehen. MUSIK „until it blazes“ SPRECHERIN Im Ramadan geht es aber nicht primär ums Fasten und um Verzicht. Noch wichtiger als der Verzicht an sich ist die spirituelle Ebene. Es ist vor allem eine Zeit der inneren Einkehr und des Gebets, sagt Fulya: O-TON 11 Eigentlich sollte man im Ramadan versuchen, den ganzen Koran sozusagen einmal durchzulesen. Ich schau dann halt so, wie weit ich persönlich komme. Erstmal lese ich es auf Arabisch, aber ich verstehe es halt nicht. Und dann schaue ich mir noch mal die Übersetzung auf Türkisch an, damit ich überhaupt verstehe, was ich gelesen habe. SPRECHERIN Im Ramadan sollen Gläubige üben, empathisch und aufrichtig zu sein. Sie sollen auch auf kleine Lügen verzichten – gemeint sind zum Beispiel Ausreden. Es geht um die Läuterung der Seele. In einer Aussage des Propheten Mohammed heißt es, dass sich Gott den fastenden Menschen zuwendet. Florian Lützen vom Zentrum für Islamische Theologie in Tübingen: O-TON 12 Ein berühmter Hadith, ein berühmter Bericht des Propheten, besagt, (…), dass das Fasten ein Schutz sei, vor dem Überwiegen des Diesseits im Herzen des Menschen. (…) Wenn man es etwas nüchterner ausdrücken möchte, hat das Fasten also das Ziel, den Charakter zu läutern oder zu verfeinern. Die Sufis haben das auch manchmal mit dem Satz ausgedrückt, dass das Fasten der Seele Raum verschaffen soll, sodass sie nicht vom Körper eingeengt wird. (…) Wenn man es noch ein bisschen weiterspinnt, diesen Gedanken, dann soll das Fasten ein tieferes Verständnis vom eigenen Wesen hervorbringen und ist gewissermaßen auch eine Art von Wissenserwerb, ein Wissen, das neben der intellektuellen Intelligenz steht, (…) und eine Art emotionale Intelligenz mit ins Spiel bringt. SPRECHERIN In Deutschland hören Muslime manchmal Sätze wie: „Ach du Armer, Du musst fasten.“ Doch das spiegele nicht die Sicht und das Empfinden der Gläubigen wider, sagt der Theologe Serdar Kurnaz: O-TON 13 Dieses Bedauern ist halt immer tatsächlich ein seltsamer Blick, weil es gibt überhaupt nicht die emotionale Ebene und die spirituelle Ebene wieder, die die Fastenden selbst empfinden. SPRECHERIN Ein weiterer wichtige Aspekt im Ramadan ist das soziale Engagement. Es ist ein Monat der guten Taten. Die Gläubigen entrichten die Armensteuer Zakat und unterstützen Bedürftige. O-TON 14 Eine weitere Ebene ist, dass man auch nachempfinden kann, was es überhaupt bedeutet, Hunger zu haben. Wie man mit den Gottesgaben umzugehen hat, wie wichtig eigentlich alle Gaben Gottes sind und dass man das noch mal hautnah spürt bei den notwendigsten Mitteln, die wir im Alltag brauchen, also Essen und Trinken, das müssen wir über den Tag hinweg mehrmals tun. Und wenn man darauf verzichtet, sieht man eigentlich die Gottes Barmherzigkeit und die Gaben Gottes, wie wichtig sie sind und welchen wichtigen Teil des Lebens ja auch ausmachen. MUSIK „Liebeslied“ SPRECHERIN Am Ende des Monats Ramadan – nach vier Wochen des Fastens - wird gefeiert. Gläubige Muslime begehen dann das Zuckerfest, Eid al-Fitr, genannt. Es markiert das Ende des heiligen Monats. ATMO (Markt Türkei/arabisches Land – Schallarchiv) SPRECHERIN In Konditoreien und auf Märkten herrscht dann Hochbetrieb. Die Menschen kaufen hübsch verpackte Pralinen, Schokolade oder auch Baklava, ein in Honig oder Zuckersirup eingelegtes Gebäck aus Blätterteig, der mit gehackten Walnüssen, Mandeln oder Pistazien gefüllt ist. Serdar Kurnaz: O-TON 15 Man feiert, dass man einen Monat lang gefastet hat. Und die Feier besteht eigentlich darin, dass man morgens früh ein besonderes Gebiet verrichtet, das Festtagsgebet. Und dann kommt man mit der Familie zusammen, und man frühstückt, man besucht die älteren Familienangehörigen. Und dort ist es dann auch üblich, weil man ja einen Monat lang gefastet hat, dass man auch Süßigkeiten verteilt oder die Gäste auch mit Süßigkeiten empfängt. Weshalb es sich auch etabliert hat in der türkischen Sprache, das gab es schon unter den Osmanen, dass man das als Şeker Bayramı, als Zuckerfest dann auch bezeichnet hat. (…) SPRECHERIN Auch zu Familie Duran in München kommen dann Freunde, erzählt die Mutter Funda: O-TON 16 Man besucht dann die Älteren, (…) Geht man dann zum Zuckerfest, um frohes Fest zu wünschen. Aber wir merken schon ein paar Jahren, dass wir auch schon zu den Älteren gehören (…), dass wir jetzt auch langsam Besuch bekommen, dass die uns unsere Hand küssen, um uns frohes Fest zu wünschen. MUSIK „until it blazes“ SPRECHERIN Zusammen fasten, zusammen beten, zusammen Fastenbrechen. Das Gemeinschaftsgefühl während des Ramadan ist für die Gläubigen wichtig. Aber es geht eben nicht nur um Verzicht, sondern vor allem um die innere Läuterung. Das reine Herz und die Offenheit für die Begegnung mit Allah sollten Muslime auch nach Ende des Fastenmonats beibehalten – im Idealfall bis zum nächsten Ramadan in einem Jahr.…
Eine Geburt ist immer auch ein soziales Ereignis, das Menschen prägt und ihr Leben verändert. Der Beruf der Hebamme war immer mit einer besonderen Aura umgeben. Von Brigitte Kohn (BR 2024) Credits Autorin dieser Folge: Brigitte Kohn Regie: Frank Halbach Es sprachen: Irina Wanka, Christian Baumann, Jenny Güzel Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Prof. Dr. Barbara Fillenberg, Hebamme und Lehrstuhlinhaberin für Hebammenwissenschaft an der Universitätsmedizin der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Hebammenwissenschaft e.V. PD Dr. habil. med. Nadine Metzger, PhD, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Lehrstuhl für Geschichte der Medizin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER . Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: 1 O-TON PROF. FILLENBERG 00.49 Ich muss zugeben, dass ich immer noch Tränen in den Augen hab, wenn das Baby geboren ist. Ich glaub, das hängt auch damit zusammen, dass ich unglaublich stolz bin auf die Frau, die diese Leistung absolviert hat in dem Moment. Und das ist so eindrücklich, dass mich das nie loslässt. ERZÄHLERIN: Die Hebamme Barbara Fillenberg, Professorin und Lehrstuhlinhaberin für Hebammenwissenschaft an der Johannes-Gutenberg Universität in Mainz, hat vielen Kindern auf die Welt geholfen und viele Paare auf den Weg ins Elternsein begleitet. Sie weiß, dass das Erleben und Gestalten von Geburten sehr stark von historischen und sozialen Rahmenbedingungen abhängt und sich im Lauf der Zeit verändert. MUSIK ENDE 2 O-TON BARBARA FILLENBERG 8.50 Ich stelle schon fest, dass das Thema Geburt nicht mehr so präsent ist in den Köpfen der werdenden Eltern. Dass das eigene Baby das erste Baby ist, das die Eltern auf dem Arm tragen, und dass sie sich im Vorfeld wenig Gedanken machen, was das eigentlich bedeutet, ein Kind zu kriegen. Oder sie haben sich so viel Gedanken gemacht, dass sie viele Filme anschauen und viel Informationsmaterial einholen und dann eher in die Risikodenkweise kommen. Und das ist für uns als Hebammen nicht ganz befriedigend, weil wir ja einen ganz anderen Ansatzpunkt haben, und wir hätten schon gerne, dass die Kinder lernen, dass eine Geburt was ganz Normales ist, was dazugehört zum menschlichen Leben und dass das auch ein normaler Vorgang ist im Leben einer Frau, der bei den Frauen meistens ganz gutgeht.“ ERZÄHLERIN: Dass das Kinderkriegen meistens ganz gut geht, darauf konnte man nicht immer so zuversichtlich hoffen. Im 18. Jahrhundert nehmen etwa 20 Prozent der Geburten einen tragischen Verlauf. Auch Johann Wolfgang Goethe wäre bei seiner Geburt fast gestorben. Seine Mutter Catharina Elisabeth erzählt Jahrzehnte später ihrer Freundin, der Dichterin Bettine von Arnim, von den Strapazen ihrer Niederkunft, und Bettine gibt das Gehörte brieflich an Goethe weiter: MUSIK „Clock Winder”; ZEIT: 00:53 ZITATORIN: "Drei Tage bedachtest Du Dich, eh Du ans Weltlicht kamst, und machtest der Mutter schwere Stunden; aus Zorn, dass Dich die Not aus dem eingeborenen Wohnort trieb, und durch die Misshandlung der Amme kamst Du ganz schwarz und ohne Lebenszeichen." ERZÄHLERIN: Protestantische Gesangsbücher jener Zeit enthalten Lieder, die Schwangeren Mut machen sollen. Vor der Geburt machen viele Frauen ihr Testament. Catharina Elisabeth Goethe und ihr erstes Kind haben Glück: Alles wird gut. ZITATORIN: „Sie … bäheten Dir die Herzgrube mit Wein, ganz an Deinem Leben verzweifelnd. Deine Großmutter stand hinter dem Bett, als Du zuerst die Augen aufschlugst, rief sie hervor: Rätin, er lebt!“ MUSIK ENDE ERZÄHLERIN: Wein gilt als Stärkungsmittel, man reibt schwächliche Neugeborene damit ein und gibt ihn auch den Gebärenden und Wöchnerinnen zu trinken. Des Weiteren hält man Zugluft von der Wochenstube fern, heizt gründlich ein, stellt Tücher, heißes Wasser und frische Butter als Schmier- und Gleitmittel bereit. Hebammen haben im allgemeinen Klistiere im Gepäck, Leinenfäden zum Abbinden der Nabelschnur, stumpfe Scheren zum Durchschneiden derselben, Salmiakgeist und Kräutersalben, auch Weihwasser und Spritzen zur Nottaufe von Kindern, die bei der Geburt zu sterben drohen. Und dann wartet man ab und hofft das Beste. Bei Komplikationen jedoch muss eine Hebamme entschlossen zugreifen. Goethes Hebamme geht so rabiat zu Werke, dass die Familie ihr die Schuld an dem gefährlichen Verlauf der Geburt gibt. MUSIK „Clock Winder”; ZEIT: 01:01 ERZÄHLERIN: Das 18. Jahrhundert ist eine Zeit großer Veränderungen, auch in der Medizin. Immer mehr männliche Ärzte drängen in die Geburtshilfe und beanspruchen die Kontrolle über die Hebammen, ohne selbst Praxiserfahrung zu haben. Das geht nicht ohne Konflikte ab, und die schwelen lange auch in den Hierarchien moderner Kliniken bis in die Gegenwart hinein. Barbara Fillenberg ist zuversichtlich, dass die Akademisierung für mehr Augenhöhe sorgen wird. Seit 2020 ist Hebammenwissenschaft auch in Deutschland ein Studiengang, der den Hebammen auch wissenschaftliche Karrieren eröffnet. Das wird die Forschung beleben, denn Hebammen legen den Fokus auf den normalerweise unproblematischen Verlauf von Schwangerschaft und Geburt, während Ärzte sich stärker mit Risiken auseinandersetzen müssen. MUSIK ENDE Das Studium der Hebammenkunde hat einen hohen Praxisanteil und zieht viel Interesse auf sich, weiß die Medizinhistorikerin Nadine Metzger, die die Studentinnen an der Universität Erlangen in der Geschichte des Hebammenberufs unterrichtet. Sie hat ein Lehrbuch verfasst mit dem Titel „Medizinische Terminologie für Hebammen“, das auch umfangreiche Kapitel zur Geschichte dieses Berufes enthält, und sie arbeitet gern mit den jungen Leuten im aufblühenden Feld der Hebammenwissenschaften. 3 OTON NADINE METZGER: Die sind unglaublich engagiert, und es gibt auch sehr viele Bewerbungen auf die Studienplätze. Die Studienplätze sind sehr begrenzt, weil es so intensive Praxisanleitungen in diesem Studium hat, und da kann man halt nicht 100 Leute gleichzeitig ausbilden, sondern maximal 25 oder 35 hier in Erlangen. Es kommen aber viele hundert Bewerber auf diese Plätze. MUSIK privat Take 009 „Realise“; Album: Eyes of a Beginner: Original Motion Picture Soundtrack; Label: Thomas Marland; Interpret: Thomas Marland; Komponist: Thomas Marland; ZEIT: 01:01 ERZÄHLERIN: Gelehrte Hebammen gab es früher auch schon. In der Antike sind sie nicht einmal so selten. Viele von ihnen haben eine ähnliche Ausbildung wie Ärzte, manche verfassen auch Bücher. Platon überliefert, dass die Mutter des Sokrates Hebamme gewesen sei und dessen philosophisch-didaktische Methode inspiriert habe: So wie die Hebamme dem Kind auf die Welt helfe, so verhelfe er, Sokrates, seinen Schülern dazu, Gedanken und Einsichten zur Welt zu bringen. Der Philosoph Aristoteles sucht häufig das Gespräch mit Hebammen, wenn er an seinen anatomischen und naturkundlichen Schriften arbeitet. Im 17. Jahrhundert hat es Justine Siegemund, eine gebildete Pastorentochter, von der Dorfhebamme zur Hofhebamme am brandenburgischen Hof gebracht und ein vielbeachtetes Lehrbuch veröffentlicht. MUSIK ENDE 4 O-TON BARBARA FILLENBERG 28. Siegemund hat einen Begriff geprägt, den ich bis heute faszinierend finde, das ist das Kontaktwissen. Als Hebamme lerne ich die Frau als Person kennen, lerne ihre Familie kennen, und wenn ich die Wochenbettbegleitung mache und die Schwangerschaftsvorsoge auch im häuslichen Umfeld anbiete, dann stelle ich fest, wie die Frau lebt und welche Ressourcen ihr zur Verfügung stehen. Dass ich auch erspüren kann von der Frau, was braucht die jetzt von mir. ERZÄHLERIN: Im 18. Jahrhundert entwickelt eine Französin namens Angélique du Coudray ein wegweisendes Unterrichtsmodell … 5 O-TON BARBARA FILLENBERG um zu zeigen, wie sich das Kind durch das Becken schraubt bei der Geburt. Sie konnte an diesem Modell auch Komplikationen darstellen, und Hebammen hatten immer die Gelegenheit, an diesem Modell zu üben, auch manuell zu üben, und das wird bis heute angewandt. ERZÄHLERIN: Aber Siegemund und Coudray sind Ausnahmehebammen. Die durchschnittliche Hebamme im Mittelalter und in der frühen Neuzeit kommt aus den ärmeren Schichten: Als Bäuerin oder Handwerkersfrau ist sie auf einen Zuverdienst angewiesen und hat weder Zeit noch Kenntnisse zum Bücherschreiben. Aber Erfahrung mit Geburten und einen guten Ruf in der Dorfgemeinschaft, das hat sie schon. 6 O-TON METZGER: Die verheirateten Frauen wählen untereinander aus ihrer Mitte die Hebamme, und das ist eine Frau, zu der sie offensichtlich Vertrauen haben. Das ist aber nicht so, dass die eine Ausbildung gehabt hätten, das war nicht großartig organisiert. Eine informelle Wissensweitergabe. ERZÄHLERIN: Im Dorf spricht es sich schnell herum, wenn bei einer Frau die Wehen einsetzen. Nachbarinnen und Verwandte eilen herbei, die Männer holen die Hebamme ab, begleiten sie durch oft unwegsames Gelände und ziehen sich zu Hause, wenn es dann hart auf hart kommt, zurück. Gebären ist Frauensache. 7 O-TON NADINE METZGER Traditionell haben immer die Frauen aufrecht geboren. Entweder gestützt im Stehen, im Hocken, durch andere Frauen aufrecht gehalten, oder im 17., 18. Jahrhundert auf Gebärstühlen, im aufrechten Sitzen. ERZÄHLERIN: Die Gebärende bleibt bekleidet, das gebietet das Schamgefühl auch unter Frauen, und die Hebamme ertastet die Lage des Kindes unter ihren Röcken. Ist die Lage problematisch, muss das Kind im Mutterleib gewendet werden. Ein Kaiserschnitt ist noch keine Option, die Mutter würde verbluten. 8 O-TON NADINE METZGER: Die Hebamme Justine Siegemund beschreibt in ihrem Buch ein von ihr entwickeltes Verfahren mit Hilfe eines Wendestäbchens, wo die Hebamme ihren Arm bis in den Uterus einführt und mit einem Stäbchen und einer Schlinge das Kind im Mutterleib wendet. Das muss eine schreckliche Prozedur gewesen sein, aber das hat Leben gerettet. Das zu können und zu wissen, wie man das macht, und es im richtigen Moment zu machen, das hat eine gute Hebamme in der Vormoderne ausgezeichnet. MUSIK „Golden arrow“; ZEIT: 01:41 ERZÄHLERIN: In Fällen, in denen sich ein tragisches Ende abzeichnet, dürfen und müssen Hebammen dem Kind die Nottaufe spenden und den sterbenden Müttern die Beichte abnehmen, also priesterliche Funktionen übernehmen. Die Kirche achtet darauf, dass sie die entsprechenden Gebetsformeln und Rituale beherrschen, und sie erwartet auch von ihnen, dass sie Verstöße gegen die Sittlichkeit, uneheliche Geburten zum Beispiel und den Namen von Kindsvätern, melden. Zur Zeit der Inquisition müssen Hebammen sich verstärkt bemühen, an ihrer Rechtgläubigkeit keinen Zweifel zu lassen, um nicht in den Verdacht der Hexerei zu geraten. Das ist nicht so einfach, da Bräuche und Rituale mit heidnischem Einschlag oft noch sehr beliebt sind. AKZENT Die Entlohnung der Hebammen regelt allerdings niemand. Wohlhabende Familien geben Geld oder Naturalien, Feuerholz zum Beispiel, bei den Armen gibt es wenig oder nichts zu holen. Viele Hebammen, die ja oft selbst einen harten Lebenskampf bestehen müssen, verwenden also mehr Sorgfalt und Zeit auf reiche Familien als auf arme. Das ist einer der Missstände, die den Regensburger Stadtvätern 1452 ins Auge fallen, weswegen sie den ersten überlieferten Versuch unternehmen, die Geburtshilfe amtlich zu regeln. Sie sehen … MUSIK ENDE ZITATOR: „den Mangel und Abgang, den sie in ihrer Stadt an guten Hebammen hätten, und dass durch Unordnung der Hebammen zu Zeiten die Frauen verwahrlost würden“. ERZÄHLERIN: Die Regensburger Stadtväter verbieten den Hebammen, den Geburtsvorgang künstlich zu beschleunigen oder die Gebärende vorzeitig zu verlassen, um zu einer anderen womöglich reicheren Frau zu eilen. Und außerdem sollen die Hebammen bei der Arbeit nicht trinken, jedenfalls keinen Alkohol. ERZÄHLERIN: Die Stadtväter regeln noch einiges mehr, und sie lassen die Frauen einen Eid vor der Obrigkeit schwören, dass sie sich an alle Auflagen halten werden. 10 O-TON NADINE METZGER: Dass Hebammen ihren Job richtig machen, wurde kontrolliert durch ein Gremium ehrbarer Frauen, wahrscheinlich die Gattinnen von Ratsherren oder wichtigen Handwerksmeistern. Und die haben in dieser weiblichen Sphäre der Frauengemeinschaft geguckt, dass die vereideten Hebammen sich an den Eid halten. MUSIK „Golden arrow“; ZEIT: 01:16 ERZÄHLERIN: Hebammeneide sind also der Ursprung der Professionalisierung der Geburtshilfe. Später werden sie vor Ärztekollegien abgelegt, denn seit dem 17. Jahrhundert steigen im Zuge des Fortschritts der Naturwissenschaften das Ansehen und der Einfluss der Ärzte in der Stadtgesellschaft rapide an. Immer mehr Landesherren erkennen, dass die Gesundheit ihrer Landeskinder und eine hohe Bevölkerungszahl für die Wirtschaft und die Landesverteidigung wichtig sind, und fördern den Beginn einer öffentlichen Gesundheitsfürsorge. Ärzte kontrollieren und überwachen die Hebammen zunächst und bilden sie später auch aus. Obwohl diese Entwicklung Konflikte und Nachteile mit sich bringt, hält die Medizinhistorikerin Nadine Metzger nichts davon, vormoderne Verhältnisse zu idealisieren. Ähnlich wie die historische medizinische Literatur enthalte das schriftlich überlieferte traditionelle Hebammenwissen auch Irrtümer wie beispielsweise Opiumgaben für Neugeborene, sagt sie. 11 O-TON NADINE METZGER: Man muss sich sehr davor hüten, das zu romantisieren. Das Bild der Hebamme als weise Frau mit besonderem Heilwissen, mittelalterlich verbrämt, das ist eine Figur, die sehr stark durch die Nazis gefördert wurde. ERZÄHLERIN: In der Stadt setzen sich die neuen Spielregeln viel schneller durch als auf dem Land, wo lange alles beim Alten bleibt. Zwar werden auch Landgemeinden spätestens seit 1800 dazu verpflichtet, angehende Hebammen zu medizinischen Kursen in die Stadt zu schicken, aber die Landfrauen akzeptieren die neumodischen Geburtshelferinnen oft nicht und schicken lieber nach den traditionellen, die sie schon kennen und die auch an den lebhaften Trubel gewöhnt sind, in dem das Gebären so stattzufinden pflegt. Cousinen, Tanten und Nachbarinnen bechern gemeinsam Wein und Bier, rauchen Tabak und überbieten sich gegenseitig mit Ratschlägen. ZITATOR: „Alle die anwesenden Frauen erzählen die Stellung, in welcher jede von ihnen ihre Kinder am leichtesten zur Welt gebracht hat, und nötigen die Gebärende, alle diese Stellungen nacheinander zu versuchen“, ERZÄHLERIN: … stellt ein Arzt aus Altona im Jahre 1763 irritiert fest. In einigen Stadtarchiven gibt es Akten über Prozesse, in denen sich eine Hebamme und ein Arzt wechselseitig der Ahnungslosigkeit und Praxisferne beziehungsweise der Kurpfuscherei beschuldigen. Karikaturen von beschwipsten Hebammen machen die Runde. 12 O-TON NADINE METZGER. Es ist oft in dieser Zeit für uns schwer zu trennen, was ist üble Nachrede und was ist ein realistisches Problem gewesen. Dieses Bild der alkoholisierten, unfähigen, schmutzigen Hebamme, das ist ein Bild, das sehr viel von ärztlichen Autoren beschworen wird. Im 18. Jahrhundert, im 19. Jahrhundert und auch noch im 20. Jahrhundert. MUSIK „Golden arrow“; ZEIT: 00:55 ERZÄHLERIN: Der moderne Arzt will Ruhe und Konzentration und einen zügigen Geburtsverlauf. Häufig greift er viel zu schnell zur Geburtszange, die es seit dem 17. Jahrhundert gibt und die die Hebammen nicht verwenden dürfen; Risikogeburten sind zum Vorrecht des Arztes geworden. Viele Frauen und Kinder überleben die Tortur einer Zangengeburt allerdings nicht. Auch die Gebärhäuser, die im 18. und 19. Jahrhundert entstehen, haben so erschreckend hohe Sterberaten, dass Kritiker sie als „Mördergruben“ bezeichnen. Und doch werden diese Häuser hauptsächlich deswegen gegründet, um die Ausbildung ärztlicher Geburtshelfer zu ermöglichen und die der Hebammen zu systematisieren. MUSIK ENDE 13 O-TON METZGER: Die Idee war die, dass arme Frauen, Frauen aus der Unterschicht mit unehelichem Kind, dass die so verzweifelt sind, dass die dann in so eine Anstalt gehen und sich dort als Anschauungsobjekt den Ärzten und Studenten zur Verfügung zu stellen. Und da normalerweise Gebären im Frauen- und Familienkreis abgelaufen ist, haben das wirklich nur ganz verzweifelte Frauen gemacht. Aber aus dieser Praxis konnte dann eben die aufstrebende männliche ärztliche Geburtshilfe genügend Anschauungs- und Forschungsmaterial gewinnen – also, „Material“ ist hier ein entpersonalisierendes Wort für die Gebärende und ihr Kind -, um daraus die Geburtshilfe als ärztliche Disziplin zu etablieren. MUSIK „Clock Winder”; ZEIT: 01:00 ERZÄHLERIN: Die Frauen müssen im Liegen gebären, um Medizinstudenten und Hebammenschülerinnen bessere Einblicke zu gewähren. Das Kindbettfieber rafft eine Frau nach der anderen dahin. 1847 schöpft der Wiener Arzt Ignaz Semmelweis den Verdacht, das könnte mit den ungewaschenen Händen der Ärzte zusammenhängen, die gerade von der Leichenschau kommen, aber er stößt auf Widerstände. Antiseptische Vorgehensweisen setzen sich nur allmählich durch – im Fahrwasser der Fortschritte in der Chirurgie. Von denen profitiert auch die Geburtshilfe. Seit 1882 ist es möglich, den Uterus nach einem Kaiserschnitt mit Carbolseide zu vernähen. Das senkt die Mortalität im Laufe der folgenden Jahrzehnte immer mehr und ist ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte der Geburtshilfe. MUSIK ENDE ERZÄHLERIN: Das wachsende Hygiene- und Gesundheitsbewusstsein hat aber auch eine dunkle Seite. Vorstellungen von Rassereinheit und Eugenik machen sich bereits im 19. Jahrhundert in den Wissenschaften breit. Sie finden ihren furchtbaren Höhepunkt im Nationalsozialismus, der auch den Hebammenberuf ideologisch für sich vereinnahmt. 15 O-TON NADINE METZGER Die Reichshebammenführerin Nanna Conti war die Mutter des Reichsärzteführers, Leonardo Conti. Das war eine ganz stramme Nationalsozialistin, die schon in den 20er Jahren in die NSDAP eingetreten war und voll hinter jedem völkischen Gedankengut stand und es sehr geschickt geschafft hat, die Hebammen in den Dienst der Körperpolitik der NS-Diktatur zu stellen. MUSIK „Clock Winder”; ZEIT: 00:52 ERZÄHLERIN: In der Nachkriegszeit setzt sich die Klinikgeburt auch auf dem Land flächendeckend durch, in der DDR in den Sechzigern, in der Bundesrepublik etwas später. In der DDR verbucht man bessere Erfolge bei der Senkung der Mütter- und Säuglingssterblichkeit als in der Bundesrepublik, auch die Hebammenausbildung ist sehr viel fundierter. Im Westen übernehmen Kassenärzte seit 1965 auch die Schwangerenvorsorge, was die Hebammen erst mal ins Hintertreffen geraten lässt. Inzwischen haben sie aber wieder ein gutes Standing, findet die Hebammenwissenschaftlerin Barbara Fillenberg. In ihrer vielfältigen Laufbahn als Hebamme hat sie auch die Erfahrung gemacht, dass Ärzte und Hebammen gut zusammenarbeiten können. MUSIK ENDE 16 O-TON BARBARA FILLENBERG: Und dieses Miteinander, das würd ich mir wünschen, dass wir das intensivieren, weil ich glaube, für die Frauen, für die Familien gibt’s nichts Besseres, als wenn die Berufsgruppen Hand in Hand arbeiten. Für mich ist es so, dass wir von der Frau aus und den Bedürfnissen des Kindes aus denken sollten und nicht unbedingt nur, was will die Berufsgruppe für sich selber, ob das jetzt Ärzte oder Hebammen sind. Der Diskurs bringt uns weiter. Es wär ja schrecklich, wenn‘s immer nur harmonisch wär, dann würden wir ja auf der Stelle treten. 17 O-TON NADINE METZGER: Ich glaube, es sehen alle in dem Bereich als Problem, dass man sich unter Personalmangel-Umständen nicht genügend um die einzelne Gebärende kümmern kann. Es ist ein organisatorisches Problem, es ist ein finanzielles, wirtschaftliches Problem, und allein der Hebammenmangel ist dafür nicht verantwortlich, es ist ein strukturelles Ding. Man kann nur hoffen, dass da gute neue Lösungen entwickelt werden.…
Unkräuter sind scheinbar unverwüstlich. Sie breiten sich schnell und oft unkontrolliert aus - zum Ärger vieler Gärtnerinnen und Landwirte. Zugleich erhöhen die unerwünschten Pflanzen jedoch die Biodiversität und dienen als Nahrung für viele Insekten. Einige enthalten auch für den Menschen wertvolle Inhaltsstoffe. Von Claudia Steiner (BR 2023) Credits Autorin dieser Folge: Claudia Steiner Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Thomas Birnstiel, Diana Gaul Technik: Regina Staerke Redaktion: Iska Schreglmann Das Manuskript zur Folge gibt es HIER . Im Interview: Marion Dorsch, LBV - Landesbund für Vogel- und Naturschutz in Bayern e.V.; Dr. Lena Ulber, Julius-Kühn-Institut in Braunschweig; Christian Meidinger, Biobauer aus Neufahrn bei Freising Diese hörenswerten Folgen von radioWissen könnten Sie auch interessieren: Der Schrebergarten - Idylle im Kleinformat JETZT ANHÖREN Gärtnern als spirituelle Erfahrung - Vom Entstehen und Vergehen JETZT ANHÖREN Heilpflanzen - Altes Wissen, neu genutzt JETZT ANHÖREN Literaturtipps: Unkräuter – Bedeutung in Gartenbau und Landwirtschaft, Gerhard Bedlan, avbuch; Unkraut, Ökologie und Bekämpfung, Peter Zwerger, Hans Ulrich Ammon, Ulmer Eugen Verlag Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Etwa 500.000 Menschen erkranken in Deutschland jährlich an Krebs - darunter auch Podcast-Host Daniela. Mit der Diagnose Brustkrebs begann für die 35-Jährige "Die Challenge meines Lebens": In sechs Episoden erzählt Daniela von ihrer Achterbahnfahrt durch diese Krise und beschäftigt sich mit verschiedenen Aspekten der Krebserkrankung: Wie können wir lernen, mit der Angst vorm Sterben und dem eigenen Tod besser umzugehen? Was braucht guter Trost und was sind die richtigen Worte in schwierigen Zeiten? ZUM PODCAST Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN…
Von Liebhabern wird er als erstes heimisches Freilandgemüse nach dem Winter sehnsüchtig erwartet: Spargel. Blütenweiß, grün, aber auch lilafarben. Er steckt voller Mineralstoffe und Vitamine. Doch sein Preis ist stolz, sein Anbau arbeitsintensiv. Ist das Kultgemüse in der Krise? Von Susanne Hofmann Credits Autorin dieser Folge: Susanne Hofmann Regie: Christiane Klenz Es sprachen: Katja Amberger, Benjamin Stedler, Carsten Fabian, Sissi Forster Technik: Andreas Lucke Redaktion: Iska Schreglmann Im Interview: Prof. Dr. Gunther Hirschfelder, Lehrstuhl für Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg Claudia Freitag-Mair, Leiterin des Europäischen Spargelmuseums in Schrobenhausen Josef und Christine Rehm, Spargelbauern in Linden bei Schrobenhausen Stefan Settele, Gasthof Settele in Augsburg Diese hörenswerten Folgen von Radiowissen könnten Sie auch interessieren: Rezepte des Überlebens (1) - Meine Familie und der Hugnerwinter JETZT ENTDECKEN Rezepte des Überlebens (2) - Mein Onkel und der Wald JETZT ENTDECKEN Rezepte des Überlebens (3) - Meine Vorfahren und das Kochbuch JETZT ENTDECKEN Gemeinsam Essen - Mehr als ein Ritual JETZT ENTDECKEN Was bringt nachhaltige Ernährung? - Alles Natur JETZT ENTDECKEN Die Kalorie - wie eine Maßeinheit die Gesellschaft verändert hat JETZT ENTDECKEN Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Ein Podcast-Tipp für alle, die gerne authentische Geschichten hören: „Ein Zimmer für uns allein“ – zwei Frauen, zwei Generationen und die Frage „Wie hast du das erlebt?“ Hier trifft Paula Lochte immer zwei Frauen aus verschiedenen Generationen und sie sprechen offen und ehrlich über ein Thema, das sie verbindet. Was waren die Kämpfe damals, was sind sie heute? „Ein Zimmer für uns allein“ findet ihr in der ARD-Audiothek und überall, wo’s Podcasts gibt – oder gleich HIER Linktipps: Schrobenhausen - Das europäische Spargelmuseum HIER geht es zur Website Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER . Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: ZITATOR Schwanenfleisch in Fischsauce ZITATORIN gepfefferter, gefüllter Siebenschläfer mit Nüssen ZITATOR gebratener Kranich mit Liebstöckel und Honig ZITATORIN gekochter Flamingo in Koriandersauce ZITATOR marinierter Pfau ERZÄHLERIN Die Rezepte für diese Gerichte stammen aus einem der ältesten überlieferten Kochbücher der Welt. Es entstand vor 2.000 Jahren im alten Rom und trägt den Titel „De re conquinaria“, zu Deutsch „Über die Kochkunst“. Verfasst haben soll es ein gewisser Apicius, ein weithin bekannter Feinschmecker der römischen Antike. Er lehrte seine Kunst in eigens gegründeten Kochschulen. Raffiniert-Exotisches findet sich in seinem Kochbuch ebenso wie einfache Hausmannskost. Seine Rezepte zeigen: Die römische Oberschicht ließ sich ihre Gaumenfreuden etwas kosten, sie legte Wert auf erlesene und außergewöhnliche Zutaten. ZITATOR 2 (nur Anfang und ggf. Schluss hörbar) Accipies asparagos purgatos, in mortario fricabis, … teres in mortario piperis scripulos VI, …postea adicies vini cyathum unum, … mittes in caccabum olei uncias III, illic ferveant, perunges patinam, in ea ova VI cum oenogaro misces, cum suco asparagi impones cineri calido, piper asperges ZITATOR (drüberlegen) Nehmen Sie gewaschenen Spargel, zerreiben ihn in einem Mörser, … Mahlen Sie sechs Pfefferkörner, …. geben Sie eine Tasse Wein und drei Unzen Öl in einen Topf. … Mischen Sie sechs Eier mit dem Essig und dem Spargelsaft, garen Sie das Gericht auf heißer Asche und bestreuen Sie es mit Pfeffer. ERZÄHLERIN In Apicius‘ Rezeptsammlung findet sich auch dieses Gericht mit Spargel, auf der altrömischen Speisekarte damals noch ein recht junges Gemüse. Als Heilpflanze bekannt war der Spargel zu der Zeit bereits viele Jahrhunderte lang in China, Ägypten und im alten Griechenland, sagt Claudia Freitag-Mair. Sie leitet das Kulturamt im oberbayerischen Schrobenhausen sowie das dortige Europäische Spargelmuseum: MUSIK 2 ( Atrium Musicae de Madrid – Papyrus Oxyrhynchus 2436 0’22) 1. ZUSPIELUNG Freitag-Mair Bei den Griechen war es sogar das heilige Gewächs der Aphrodite, weil man damals schon wahrscheinlich die Form bisschen in Verbindung gebracht hat mit einem männlichen Phallus. ERZÄHLERIN Frisch vermählte Paare wurden mit dem Kraut der Spargelpflanze geschmückt, man schwor auf den Spargel als Aphrodisiakum zur Stärkung der Manneskraft und als Heilpflanze: Spargel sei entwässernd und entgiftend. Die Römer begannen den bis dahin wild wachsenden Spargel zu kultivieren. Der Geschichtsschreiber Plinius der Ältere hielt rund 200 nach Christus fest: ZITATOR 2 (Plinius) Omnium in hortisrerum lautissima cura asparagis ERZÄHLERIN Übersetzt so viel wie: ZITATOR (Plinius) Von allen Dingen im Garten wird dem Spargel die größte Sorgfalt gewidmet MUSIK 3 ( Procurans odium 0’42) ERZÄHLERIN Zu jener Zeit ist der Spargel noch ausschließlich grün. Bei den Stangen handelt es sich um die Sprosse der Spargelstaude. Sie überwintert als Wurzelstock in der Erde und treibt im Frühling neu aus. Und wie! Eine Spargelpflanze entwickelt bis zu 25 Triebe, die am Tag mehrere Zentimeter wachsen. Man kann dem Spargel also beim Wachsen fast zuschauen. Im Mittelalter wurde Spargel in europäischen Klostergärten angebaut. Für den Stauferkaiser Friedrich II. im 13. Jahrhundert beispielsweise war er ZITATOR (Friedrich II.) das beste Gemüse 2. ZUSPIELUNG Hirschfelder „Wir sehen immer wieder, dass Spargel eigentlich eher eine Sache für die Wohlhabenden ist, eine teure Angelegenheit. Woran liegt das? ERZÄHLERIN Dieser Frage ist Professor Gunther Hirschfelder nachgegangen. Er lehrt vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der kulturwissenschaftlichen Ernährungs- und Agrarforschung. 3. ZUSPIELUNG Hirschfelder Die besondere Rolle des Spargels kommt eben daher, dass er einmal nur kurz verfügbar ist, eben nur im späten Frühjahr und Frühsommer, bis zum Johannistag. Am 24. Juni ist Schluss damit, sonst kann sich die Pflanze nicht regenerieren. Vor allem aber ist der Spargel doch eine Angelegenheit, die einen guten Boden braucht. Und auf diesen guten Boden kann ich alles Mögliche anbauen, nämlich in einer Mangelgesellschaft Dinge, die viel Kalorien bringen oder viel Eiweiß bringen, also entweder Getreide oder Erbsen, Bohnen, Linsen, also Leguminosen, oder ansonsten Edelgemüse, was ich auch lange aufheben kann. Und ich muss erst mal so viel Überschüsse haben, dass ich den guten Boden überhaupt für den Spargel hernehmen kann, der zwar lecker und gesund ist, aber nicht richtig satt macht. MUSIK 4 ( Einstürzende Neubauten: Wüste 0’41) ERZÄHLERIN Und so erklärt sich auch, dass der Spargel in Kriegs- und Krisenzeiten einen schweren Stand hatte. Claudia Freitag-Mair vom Spargelmuseum in Schrobenhausen: 4. ZUSPIELUNG Freitag-Mair Im Ersten Weltkrieg und im Zweiten Weltkrieg war die Verordnung auch von Regierungsseite her, die Felder mit Kartoffeln mit nahrhaftem Gemüse und Obst anzubauen. Also da war eigentlich Spargelanbau verboten, weil: ist ja kein Nährwert drin… Es ist Wasser mit der Gabel gegessen, sozusagen. ERZÄHLERIN Der Asparagus officinalis, so der botanische Name von Spargel, war in seiner Geschichte immer ein Gemüse für die bessere Gesellschaft, für diejenigen, die nicht essen mussten, um zu arbeiten, sondern die genussvolle Seite des Lebens auskosten konnten. Dass der heimische Spargel nur über wenige Wochen im Jahr verfügbar ist, macht wohl einen Teil seines Reizes aus. Die Spargelsaison dauert in Deutschland ohne Hilfsmittel rund zwei Monate, er sprießt ungefähr ab Mitte April und endet an Johanni, also am 24. Juni. „Kirschen rot, Spargel tot“, weiß der Volksmund. MUSIK 5 (CD492710122 Amarillis – Caprice, H 542 0’50) Schon zu früherer Zeit versuchten Spargelliebhaber, die Natur auszutricksen und die Spargelzeit künstlich zu verlängern. Im 16. und 17. Jahrhundert hielten Gewächshäuser an den europäischen Königshöfen Einzug. Darin konnten wärmeliebende Pflanzen, die man aus dem Süden holte, dem Winter trotzen. In den sogenannten Orangerien ließ man Zitrusfrüchte, Feigen und Ananas wachsen. Es gibt Hinweise darauf, dass man auch Spargel in Gewächshäusern anbaute, die man sogar beheizte, um ihn auch außerhalb der Saison zu ernten. Claudia Freitag-Mair: 5. ZUSPIELUNG Freitag-Mair Da ist bekannt, dass auch Ludwig XIV. sehr viel Spargel mochte und auch Wert darauf legte, dass der auch überwintert wurde. Der wollte das ganze Jahr Spargel auf der Tafel haben. ERZÄHLERIN Den Rang des Edelgemüses brachte Antoine Beauvilliers, ein berühmter französischer Koch des 18./19. Jahrhunderts, in seinem Buch über die französische Kochkunst so auf den Punkt: ZITATOR Spargel ist das Gemüse der Könige und die Königin der Gemüse. ERZÄHLERIN Bis ins 19. Jahrhundert hinein blieb Spargel der gehobenen Gesellschaft vorbehalten, sagt Spargelkennerin Claudia Freitag-Mair: 6. ZUSPIELUNG Freitag-Mair Erst mit der Eisenbahn, mit der Überbrückung oder Überwindung der weiten Strecken durch Transportmittel, die dann billiger waren, konnte auch dann der einfache Bürger sich also einen Spargel leisten. MUSIK 6 ( Comedian Harmonists: Veronika, der Lenz ist da 0’22) ERZÄHLERIN Seitdem wurde der Spargel weiter demokratisiert und fand seinen Weg allmählich in allen gesellschaftlichen Schichten auf den Teller. Durchaus kostspielig, aber doch erschwinglich für die Mehrheit, zumindest hin und wieder. Der Kulturwissenschaftler Gunther Hirschfelder erinnert sich an seine Jugend in den 1960er/70er Jahren: MUSIK 7 ( Hazy Osterwald – Singing Guitar 0’50) 7. ZUSPIELUNG Hirschfelder: Spargel war das neumodische Sommergemüse. Es stand für Leichtheit und Eleganz, für irgendwas Internationales. Und wenn ich an Spargel denke, dann denke ich nicht nur an diesen komischen Geruch des Spargelwassers und an den leckeren Schinken, den es dazu gab, sondern ich denke vor allem an das Frühsommer-Licht, was auf einmal da war, die Wärme nach dem langen Winter, an die tolle Farbe, und Spargel war von daher allein schon durch die Jahreszeit ein gutes Laune-Gemüse, weil man wusste, wenn der Spargel da ist, ist der Winter vorbei, und der Sommer steht vor der Tür. ATMO Vogelgezwitscher, Storchengeklapper ERZÄHLERIN Im oberbayerischen Schrobenhausen haben die Störche ihre Nester bezogen, bald schlüpft der Nachwuchs. Lindgrüner Flor zeigt sich auf den Äckern, dazwischen viele Felder, die mit schwarzer oder weißer Folie überspannt sind. Als hätte der Verpackungskünstler Christo hier gewirkt. Die Folien verhüllen das Produkt, das Schrobenhausen weit über die Region hinaus bekannt macht – den Spargel. Die Abdeckung dient der Überlistung der Natur: Sie schützt die Pflanze vor Kälte und Unkraut. Der Spargel findet hier einen idealen Boden vor: Humusreich, sandig und locker, so dass die Spargelsprosse kerzengerade hinauf zum Licht dringen können. Apropos Licht: Bis vor rund 150 Jahren war der Spargel ausschließlich grün. Claudia Freitag-Mair vom Schrobenhausener Spargelmuseum. 8. ZUSPIELUNG Freitag-Mair Erst dann ist man draufgekommen, wenn man dem Spargel Licht entzieht, … wenn man den abdeckt, kommt keine Sonne hin, kein Licht … es gibt keine Photosynthese, und er verfärbt sich nicht. ganz am Anfang hat man Hauben drüber gestülpt, damit kein Licht drankommt. Später hat man diese Erdwälle angehäuft und gesagt: Das hilft auch. Und er ist schön elfenbeinfarbig. … Und in den besseren Bürgerhäusern oder auch am Fürstenhof war natürlich der weiße Spargel sehr beliebt. MUSIK 8 ( Maxi Menot – Path To Restoration 0’37) ERZÄHLERIN Der sogenannte Bleichspargel - in Deutschland hat er seine grünen Vorfahren längst verdrängt. Nach der Anbaufläche bemessen, ist das weiße Gold in Deutschland die Nummer Eins beim Freiland-Gemüse. Auf rund 1,4 Kilo Spargel pro Kopf kommen wir im Jahr. Damit liegt der Spargelkonsum jedoch etwas niedriger als im Durchschnitt der letzten 20 Jahre. Das beobachtet auch Gunther Hirschfelder von der Universität Regensburg: 9. ZUSPIELUNG Hirschfelder Der Spargel ist ein bisschen in die Krise geraten, weil Spargel natürlich auch vom Anbau und vor allem von der Ernte her teuer ist. Und er gehört zu den absolut hochpreisigen Gemüsen, und er steht heute nicht mehr für eine bürgerlich leichte Küche, sondern fast für eine Luxusküche, und ich bin gespannt, wie der Spargel dieses Jahr im Preis entwickeln wird. Wer kann sich ihn überhaupt noch leisten? MUSIK 9 ( Maxi Menot – Path To Restoration 0’27) ERZÄHLERIN Zwischen acht und 12 Euro kostet ein Kilo Spargel. Je weißer, dicker und gerader gewachsen, desto teurer, erklärt Spargelbauer Josef Rehm. Er bewirtschaftet ein kleines Spargelfeld bei Schrobenhausen und setzt dabei vor allem auf alte Sorten. Auf Plastikplanen sowie Pestizide verzichtet er. 10. ZUSPIELUNG Rehm Der Spargel ist schon noch teuer, er wird auch nicht billiger, weil auch unsere Löhne ansteigen. Unsere Spargelstecher kriegen den Mindestlohn. … Und die Landwirte müssen halt das auf die Lebensmittel umlegen. Und das wird von Jahr zu Jahr schwieriger. Du kannst den Spargel nicht ein Jahr das Kilo um einen Euro erhöhen, … dann sagen viele, ich kauf mir halt Kartoffeln, weil einen Spargel können wir uns nicht mehr leisten. Es gibt viele Leute, die sparen und müssen sparen ERZÄHLERIN Für die Erntezeit holt Josef Rehm Saisonarbeitskräfte aus Rumänien, die dann bei ihm auf dem Hof wohnen. Einheimische Erntehelfer sind nicht mehr zu bekommen, berichtet er. Zu anstrengend die Arbeit, zu gering – gemessen daran - die Entlohnung. Jeder einzelne Spargel muss von Hand gestochen werden, in gebückter Haltung, bei jedem Wetter. Sobald sich an der Oberfläche des Erdwalls Sprünge zeigen, heißt es: 11. ZUSPIELUNG Rehm Mit den zwei Fingern vorsichtig reingraben, dass man den Kopf nicht verletzt. Und dann grabt man halt runter, … dass man den halt dann bei 22 oder 25 Zentimeter absticht. Und dann müssen wir aufpassen, weil der Spargelstock, der macht so zwischen 15 und 25 Triebe, da ist einer drin, der hat zehn Zentimeter, einer 15 Zentimeter, andere drei Zentimeter. Und wenn ich jetzt nicht aufpass‘, breche ich den ab. Passiert mir auch, aber so wenig wie möglich sollte man halt verletzen. Und dann soll man den einen genau abstechen und den anderen nicht anstechen. Weil, der schmeckt dann bitter oder er wächst gar nicht mehr. ERZÄHLERIN Ohne sorgsame Handarbeit kein Spargel. Und sobald die Stangen geerntet sind, tickt die Uhr. Binnen ein, zwei Tagen müssen sie vermarktet werden. Gunther Hirschfelder: 12. ZUSPIELUNG Hirschfelder Wer große Spargelfelder baut, muss in kurzer Zeit seine komplette Ernte verkaufen. Wir können ihn nicht wie die Kartoffel in den Keller legen, in den Kühlschrank legen, ewige Zeiten aufheben und zur Not noch Schnaps draus brennen oder an die Schweine verfüttern. Der Spargel muss frisch gegessen werden. MUSIK 10 (Simon Borer – Afternoon Sun 1’00) ERZÄHLERIN In einer Landwirtschaft, die zunehmend unter Effizienzdruck steht, ist der Spargel ein schwieriger Kandidat. Denn erst im dritten Jahr, nachdem er gepflanzt wurde, bringt er den vollen Ertrag. Nach der Ernte braucht er bis zum nächsten Frühjahr, um sich zu erholen. Das Feld liegt in diesen langen Monaten brach. Im Sommer treiben die Spargelpflanzen aus, das Spargelkraut sprießt und je länger es grün bleibt, desto mehr Stärke kann über die Fotosynthese in der Wurzel eingelagert werden. Hier schlummert schon der Ertrag des nächsten Frühjahrs. Nach spätestens zehn Jahren ist eine Pflanze erschöpft und muss ausgetauscht werden. Dazu kommen die Launen der Natur, die das Wachstum des Spargels stark beeinflussen, sagt Spargelbauer Josef Rehm: 13. ZUSPIELUNG Rehm Das macht eine Schwierigkeit aus, weil - jetzt wird Schönwetter, kommen Gewitter, regnet aber nicht. Dann gibt es massig Spargel. Wird es kalt, geht der Wind, regnet’s, gibt es bei uns nicht viel Spargel, ohne Folie. Das ist halt die Natur. ERZÄHLERIN Nicht nur Wind und Wetter muss der Spargel trotzen, dazu kommt das Auf und Ab in der Konjunktur. Boomt die Wirtschaft, dann geht es auch dem Spargel gut, beobachtet der Kulturwissenschaftler Gunther Hirschfelder. Das war zuletzt Anfang dieses Jahrhunderts der Fall. Da wurde das einstige Luxusgemüse popularisiert: 14. ZUSPIELUNG Hirschfelder Die Konjunktur lief gut, die Menschen hatten mehr Geld und jedes Jahr mehr Geld, und der Anteil des Geldes, was für die Ernährung ausgegeben worden ist, ist auch gestiegen. Gleichzeitig kam immer mehr Konjunktur des gesunden und saisonalen Essens, da war man bereit, für den Spargel Geld auszugeben. MUSIK 11 ( Simon Borer – Afternoon Sun 0‘30) ERZÄHLERIN Es folgte eine Art Spargelinflation. Zwischen dem Jahr 2000 und 2018 hat sich die Ernte auf deutschen Anbauflächen beinahe verdreifacht. Das Spargel-Angebot ist entsprechend gewachsen – mit Folgen für sein Image, beobachten die Spargelbauern Josef und Christine Rehm: 15. ZUSPIELUNG Christine und Josef Rehm Es ist halt schade, dass das bisschen ein Massenprodukt geworden ist. Früher war es wirklich was ganz Besonderes. – Da hats auch nicht so viel Spargel gegeben. … da hast du den suchen müssen, da sind Leute gekommen für den Spargel von weiß Gott woher und haben auf dem Hof gekauft oder auf dem Markt. Und jetzt stehen viele Spargelbauern irgendwo an der Straße. Das Image verliert schon. Früher war es was Besonderes. … an Image hat er schon verloren, der Spargel ja, das ist ein Produkt geworden, das du in jeder Ecke kaufen kann. ERZÄHLERIN Nicht nur regionalen Spargel natürlich. Spätestens ab Februar findet auch die Importware aus Griechenland, Spanien bis hin zu Mexiko und Peru in die Supermärkte. Mit dem wachsenden Angebot gerät der Spargel in die Defensive, so der Kulturwissenschaftler Hirschfelder. Dazu kommen steigende Energie- und Lohnkosten. 16. ZUSPIELUNG Hirschfelder Wir haben einen Pfundpreis, der zwischendurch bei vier, fünf Euro vielleicht lag und jetzt deutlich hochgegangen ist in den letzten Jahren. Auch wenn wir ein sehr trockenes Frühjahr haben oder ein ganz verregnetes Frühjahr, auch das mindert die Ernte. Die Arbeitskraft ist teurer geworden. Die Arbeitsbedingungen sind auch besser geworden. Auch das müssen wir sehen. Unter den Bedingungen der Ausbeutung lässt sich Spargel besser produzieren als unter den Bedingungen fairer und gerechter Löhne. Und da ist es gar kein Wunder, dass dieses schwierig zu erntende Gemüse eben im Laufe der Zeit teurer geworden ist und von einem besseren Alltagsprodukte zu einem Luxusprodukt geworden ist. Und dazu kommen eben steigende Preise gerade von Mieten, gerade in Bayern, führen dazu, dass jüngere Leute weniger verfügbares Einkommen für Essen haben. ERZÄHLERIN Hirschfelder ist überzeugt: Die Krise des Spargels wird umso größer, je mehr die wirtschaftliche Entwicklung im Land ins Stocken kommt. 17. ZUSPIELUNG Hirschfelder Und wenn wir daran denken, dass die Wirtschaft sich transformiert und dass auch der Automobilsektor etwa an Bedeutung einbüßt und an Wirtschaftskraft verliert, dann sinken Einkommen – das wird es dem Spargel nicht leichter machen. ERZÄHLERIN Der Spargel hat es aber nicht nur wegen seines stolzen Preises inmitten einer stagnierenden wirtschaftlichen Entwicklung zunehmend schwer. Für Gunther Hirschfelder wirkt er auch wie aus der Zeit gefallen. Schließlich ist er nicht nur in Anbau und Vermarktung ein durchaus anspruchsvolles Gemüse. 18. ZUSPIELUNG Hirschfelder Dieses Sperrige, Gestelzte, Vornehme, das macht ihn schon zu einer besonderen Sache, die für den ganz schnellen Alltag und für den ganz großen Pragmatismus nicht taugt. ERZÄHLERIN Und so hat Spargel in den Augen von Hirschfelder bei der jungen Generation keinen leichten Stand. Obwohl er viele Kriterien erfüllt, die ihn für eine zeitgemäße Kost geradezu prädestinieren: Er ist gesund, vegan, saisonal und kommt aus der Region. 19. ZUSPIELUNG Hirschfelder Aber der Spargel steht für viele junge Leute eben auch für die Generation der Eltern. Von denen will man sich immer absetzen. Der Spargel ist kompliziert im Essen und in der Zubereitung, und er passt nicht recht zu diesen neuen Trends easy To-run und All-in-One und Bowl Gerichte, also so Suppengerichten, wo alles reinkommt, wo es egal ist, wie lange das kocht. Der Spargel verzeiht nicht so viel wie Zwiebel oder Fenchel oder Mohrrübe oder so. Und das macht ihn ein bisschen kompliziert. Und er braucht Aufmerksamkeit. … Wobei: Er hat Potenzial. Wir können wahnsinnig viel Modernes auch aus ihm machen. ERZÄHLERIN Davon ist auch der Gastronom und gelernte Koch Stefan Settele vom Gasthaus Settele in Augsburg überzeugt. Seinen Familienbetrieb gibt es schon seit 120 Jahren. Jedes Frühjahr bietet er Spargelwochen mit Spargel aus der Region an, und ihm fällt auf: 20. ZUSPIELUNG Settele Große Spargelessen gibt es tatsächlich ein bisschen weniger. … viele machen natürlich auch Spargel zu Hause. Es gab mal Zeiten, wo die Gruppen wirklich speziell zum Spargelessen gekommen sind. MUSIK 12 (Eko Fresh - Ekmek parasi (Instrumental) 0’50) ERZÄHLERIN Diese Zeiten seien vorbei. Im Restaurant habe der klassische Spargel mit Kartoffeln, zerlassener Butter oder Sauce Hollandaise an Attraktivität verloren. Deshalb setzt Stefan Settele auf neue Spargelkreationen: 21. ZUSPIELUNG Settele Ob man eine Vorspeise daraus macht, ob man salatmäßig was macht, im Hauptgang als Ragout, als Risotto – selbst im Dessert geht Spargel. Also, das ist unglaublich vielseitig. Und das ist natürlich für uns die Herausforderung, wo man sich auch ein bisschen abgrenzen kann. … Ich finde ihn auch herrlich als Salat bisschen asiatisch angemacht, also schön fruchtig, mit bissche n Chili. Da kann man auch Mango dazu kombinieren, Süße reinbringen über einen Honig zum Beispiel und dann ein bisschen Sesamöl und bisschen Limette noch mit rein. Und das ist ein schöner, frischer Salat dann. ERZÄHLERIN Auch wenn also die Bedingungen für das Kultgemüse Spargel womöglich schon einmal leichter waren – Spargelforscher Gunter Hirschfelder sieht im Spargel 22. ZUSPIELUNG Hirschfelder letztlich auch eine Metapher für ein gutes Leben der Gegenwart und für ein gutes Leben früher. … Letztlich ist es die Ökonomie, die das richten wird. … Der Spargel wird vielleicht von einem sehr populären Gut wieder in seine Nische zurückfinden. Da hat er aber seinen Platz, und da wird er auch neue Chancen entfalten. MUSIK 13 ( Guiseppe Amore & Bertold Knecht – Spargelzeit 0’30) ERZÄHLERIN Und wenn man Spargelbauer Josef Rehm hört, ist auf eines wohl Verlass - konjunkturelle Krisen hin oder her: Die Spargelliebhaber. Sie freuen sich alle Jahre wieder auf das frisch geerntete Frühlingsgemüse. 23. ZUSPIELUNG Rehm Wissen Sie, Sie fahren da 20 Jahre auf den Markt, die Leute, die bei Ihnen einkaufen, die kennen Sie inzwischen. Man kennt sich einfach. Du kommst den ersten Tag, da kommen die Leute und sagen, Mei ist das schön, Herr Rehm, dass Sie wieder da sind. Dann sag ich, es ist schön, dass Sie wieder da sind, was täte ich allein auf dem Markt, wenn Sie nicht kommen würden? Und so traurig ist es dann auch am letzten Tag, man wünscht sich dann schöne Weihnachten und frohe Ostern, bis nächstes Jahr und da sind Leute dabei, die weinen, wenn ich am letzten Tag auf dem Markt stehe.…
Wie funktioniert eine offene Gesellschaft und wie lässt sie sich bewahren? Wie kommt wissenschaftliche Erkenntnis zustande? Fragen, die den Philosophen Karl Popper zeit seines Lebens umtrieben. Er war ein konstruktiver Skeptiker, der rechten wie linken Gesellschaftsutopien kritisch gegenüberstand. Von Christian Schuler (BR 2024) Credits Autor dieser Folge: Christian Schuler Regie: Kirsten Böttcher Es sprachen: Hemma Michel Technik: Monika Gsaenger Redaktion: Bernhard Kastner Im Interview: Prof. Manfred Geier, Hamburg Diese hörenswerten Folgen von radioWissen könnten Sie auch interessieren: Agnes Heller - 'Du hast immer die Wahl!‘ JETZT ANHÖREN Kants Kategorischer Imperativ - Veraltet oder brandaktuell? JETZT ANHÖREN Im Grunde gut? Das Menschenbild im Wandel der Zeit JETZT ANHÖREN Der Philosoph Thomas Hobbes - Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf JETZT ANHÖREN Literaturtipps: Karl R. Popper: Ausgangspunkte. Meine intellektuelle Entwicklung, Hamburg 1979. Karl R. Popper: Alles Leben ist Problemlösen. Über Erkenntnis, Geschichte und Politik, München 2005 (9. Auflage). Manfred Geier: Karl Popper, rororo, Hamburg 1994. Hier noch besondere Podcast-Empfehlungen der Redaktion: Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört. ZUM PODCAST Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER . Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: Zitator Zwar habe ich, wie es niemandem erspart bleibt, Sorgen und Kummer erlebt, doch glaube ich nicht, dass ich als Philosoph eine unglückliche Stunde erlebt habe. ... Seit wir 1950 nach Penn in Buckinghamshire gezogen sind, bin ich, so vermute ich, der glücklichste Philosoph, der mir je begegnet ist. Erzählerin Ein glücklicher Philosoph? Im 20. Jahrhundert, im Zeitalter der Weltkriege, der totalitären Regime, Konzentrationslager und Völkermorde? Philosophiert sich da einer das Leben schöner, als es ist? Sir Karl Popper schreibt diese Zeilen in den 1970-er Jahren, in seinem autobiographischen Buch „Ausgangspunkte“, und er beharrt auf seinem Glücklichsein bis an sein Lebensende. Als 83-Jähriger beginnt er einen Vortrag in Zürich, voller Freude über die vielen jungen Menschen, die vor ihm sitzen, mit den Worten. Zitator Ich finde das Leben unbeschreiblich wundervoll. Es ist sicher auch schrecklich, und ich habe furchtbar traurige Todesarten in meiner engsten Verwandtschaft und Freundschaft miterlebt. 16 meiner nächsten Verwandten sind Opfer von Hitler geworden, teils in Auschwitz, teils durch Selbstmord. Trotz allem und obwohl ich nicht selten verzweifelt war und auch heute schwerste Sorgen habe, war es mit mir ‚Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt‘; und ich bin glücklich. Erzählerin Was war das für ein Glück, das sich offenbar gegen widrigste Umstände und selbst angesichts von Katastrophen zu behaupten wusste? Zunächst einmal war es das Glück eines Mannes, der auf ein Leben zurückschaut, das erfüllt war von konzentrierter Denk- und Lehrtätigkeit; eines Mannes zudem, der eine Stunde von London entfernt lebte, abgeschieden und zugleich unablässig beschäftigt mit den Fragen, die ihn seit Jahrzehnten umtrieben: Was können wir wissen? Was bedeutet wissenschaftliche Erkenntnis? Was macht ein menschenwürdiges Staatswesen, was eine offene Gesellschaft aus? Eines Mannes auch, dessen politische Überzeugung sich mit dem berühmten Bonmot von Winston Churchill ausdrücken lässt: Zitator Die Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – ausgenommen alle anderen Regierungsformen. Erzählerin Ebenso kritisch wie er als Philosoph und Wissenschaftstheoretiker war, konnte er auf extreme politische Ansichten und auf existenziellen Pessimismus reagieren. In einem Spiegel-Interview von 1992 wiederholt er sein immer wieder formuliertes Credo: Zitator Ich stehe unserer heutigen Gesellschaft sehr kritisch gegenüber. Da ließe sich vieles verbessern. Aber unsere liberale Gesellschaftsordnung ist die beste und gerechteste, die es bisher auf Erden gab. Zitator Vom Himmelhof, da komm ich her. Erzählerin „Am Himmelhof“, das ist eine Adresse am westlichen Rand von Wien, die Popper in seiner Autobiographie anspielungsreich erwähnt. Zum einen ist der „Himmelhof“ der Ort, an dem Popper 1902 zur Welt kam, zum anderen ist es eine Metapher für das erste philosophische Problem, das sich seiner kindlichen Neugier stellte: „der gestirnte Himmel“, in den er abends schaute, der Kosmos in seiner unfassbaren und unfasslichen Größe. Zitator Ich konnte mir weder vorstellen, dass der Raum endlich sei, noch dass er unendlich sei. Erzählerin Popper wächst in einem wohlhabenden, liberal-aufgeklärten Haus auf. Poppers Mutter ist Mitbegründerin der „Wiener Musikfreunde“. Der Vater, Rechtsanwalt, Autor, Freimaurer, engagiert sich für Arme und Obdachlose. Er steht einem Verein vor, der in Wien unter anderem das Männerwohnheim Meidling betreibt, eine soziale Einrichtung für Gestrandete und gescheiterte Existenzen, in der von 1910 bis 1913 auch ein gewisser Adolf Hitler gemeldet ist. Von Anfang an ist Popper von Büchern und Musik umgeben. Eine behütete Kindheit, die an seinem 12. Geburtstag abrupt endet. An jenem 28. Juli 1914 erklärt Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Der Erste Weltkrieg beginnt. Er wird die Welt, in der Karl Popper aufgewachsen ist, zerstören. Popper fühlt sich schon als Jugendlicher abgestoßen von dem nationalistischen Getöse, das den Krieg begleitete. 01 O-Ton Popper Ich war 12 Jahre, als der Krieg ausgebrochen ist, und ich bin sehr bald als Kind schon Pazifist geworden unter dem Einfluss sowohl meines Vaters als auch von Freunden. Ich habe einen Freund in Wien gehabt, einen Ingenieur, Arthur Arndt, ein besonders entschiedener Anti-Nationalist ... Unter dem Einfluss dieses Arthur Arndt bin ich dann sehr gegen den Krieg gewesen, sehr bald. Und ich habe auch ziemlich bald begriffen, dass die Berichte über den Krieg ... das war natürlich ungeheure Propaganda. Im Jahr 1918, als der Krieg zu Ende ging, war ich ein radikaler Sozialist, auch unter dem Einfluss dieses Ingenieurs Arthur Arndt. Ich habe mich sogar einige Wochen als Kommunisten betrachtet. Erzählerin Das war im Frühjahr 1919. Das Kaiserreich war zerfallen, die ökonomische Produktion stand weitgehend still, Millionen fanden keine Arbeit. Obdachlose und Bettler beherrschten das Straßenbild, Hunderttausende froren und hungerten. 1919: ein Schlüsseljahr in Poppers Leben - und ein Jahr, in dem sein Denken entscheidende Impulse erfuhr. Erzählerin Am 15. Juni kommt es im 9. Wiener Gemeindebezirk zu Unruhen. Linke Demonstranten, unter ihnen Popper, planen einen Angriff auf die Polizeistation in der Hörlgasse, um verhaftete Gesinnungsgenossen zu befreien. Die Polizei feuert in die Menge, es gibt Tote. 02 O-Ton Popper Das war für mich die entscheidende Wendung gegen den Marxismus. Ich war zwar entsetzt über die Tat der Polizei, aber ich war auch entsetzt darüber, dass ich und andere Leute einfach aufgrund der kommunistischen Formel: je mehr Unruhen und je ärger die Dinge werden, desto schneller wird der Sozialismus kommen und desto besser ist es für die Menschheit. Diese Formel habe ich von da an bezweifelt ... Ich meine, man kann sein eigenes Leben für gewisse Ideale einsetzen, aber ob man das Leben anderer einsetzen kann, ist überaus fragwürdig. Am fragwürdigsten ist es, das Leben anderer einzusetzen, wenn man ihnen sagt, dass es sicher zu einer Lösung aller dieser Probleme kommen wird im Sozialismus. Wenn man von dieser Sicherheit in Wirklichkeit nichts weiß. Erzählerin Für manchen humanitären Impuls des Sozialismus hegte Popper zwar weiterhin gewisse Sympathien. Auch befürwortete er das Engagement des „roten Wien“ etwa für sozialen Wohnungsbau oder eine reformorientierte Schulpolitik. Einen Marxismus jedoch, der den exklusiven Anspruch erhob, Geschichte objektiv zu beschreiben und „wissenschaftlich“ vorherzusagen, lehnte er strikt ab. Der sogenannte „Historische Materialismus“ war für ihn nichts als ein Mythos. Erzählerin Das Jahr 1919 hielt für Popper noch ein weiteres Schlüsselerlebnis bereit. Es ereignete sich zwei Wochen nach den Schüssen in der Hörlgasse. Ein paar Jahre zuvor hatte Albert Einstein eine revolutionäre Theorie vorgelegt, wonach Kategorien wie Raum und Zeit nicht mehr als absolute, unhintergehbare Größen für kosmische Ereignisse verstanden werden können. Raum sei sozusagen eine bewegliche Kategorie, das Weltall sei gekrümmt und dehne sich aus. Zeit vergehe zudem an unterschiedlichen Stellen des Weltraums langsamer oder schneller als an anderen usw. Diese Relativitätstheorie war bislang eine rein mathematische These gewesen, die sich durch Beobachtung noch nicht hatte bestätigen lassen. Das änderte sich nun durch ein englisches Forscherteam, dem es gelang, die durch Gravitation verursachte Krümmung von Sternenlicht nicht nur zu errechnen, sondern zu beobachten. Jahrhundertelang geltende Theorien von Euklid bis Newton mussten damit überdacht werden oder gar als widerlegt gelten. Was Popper an den Beobachtungen der englischen Forscher besonders elektrisierte, war allerdings nicht allein das, was Einsteins Theorie bestätigte. Zitator Was mich hauptsächlich beeindruckte, war ... die Tatsache, dass sich hier eine Theorie aufs äußerste exponierte, sozusagen eine Widerlegung verlangte, und dass diese Widerlegung nicht stattfand. Erzählerin Dies wird für Popper in der Folge zum Kriterium jeder seriösen wissenschaftlichen Arbeit: dass Forscher ihre Theorien der Widerlegbarkeit aussetzen. Der sogenannte wissenschaftliche Marxismus tut das seiner Ansicht nach nicht, ebenso wenig wie die Psychoanalyse Siegmund Freuds. Zitator Diese Theorien erweckten den Anschein, praktisch alles erklären zu können, was sich innerhalb ihres Bezugsrahmens abspielt. Das Studium jeder der Theorien schien die Wirkung einer intellektuellen Bekehrung oder Offenbarung zu haben ... Waren die Augen erst einmal geöffnet, erblickte man überall bestätigende Beispiele ..., und Ungläubige waren einwandfrei solche, die die diese handgreifliche Wahrheit nicht sehen wollten ...; sei es, weil sie ihrem Klasseninteresse widersprach, sei es, weil ihre Verdrängungen noch ‚unanalysiert‘ waren ... Erzählerin Zu den Theorien, die Popper attackiert, kommen später noch weitere, etwa die Anschauungen einiger Mitglieder des sogenannten „Wiener Kreises der wissenschaftlichen Weltauffassung“, einer Gruppe von Mathematikern, Physikern, Logikern, Sozialwissenschaftlern mit einem äußerst strengen, antimetaphysischen und rein auf Empirie gestützten Wissenschaftsbegriff. Diese Gruppe bot Popper einerseits ein anregendes geistiges Umfeld, um seine eigenen Gedanken weiterzuentwickeln. Zugleich aber weckten die Thesen und Methoden mancher Vertreter des Wiener Kreises seinen Widerspruch. Der Philosoph Manfred Geier erklärt, warum. 03 Zsp Geier Der Wiener Kreis setzt alles auf die Bestätigung von Theorien. Verifikation, also die Bestätigung der Wahrheit einer Theorie steht für den Wiener Kreis im Mittelpunkt ... sie setzen sich also selbst nicht der Prüfung aus, dass es möglicherweise falsch ist, was sie vertreten oder behaupten. Und deshalb setzte er gegen dieses abstrakte Prinzip der Verifikation, der Bestätigung der eigenen Position, die eher schwächere Haltung: Versuchen wir doch das, woran wir glauben, zu widerlegen. Denn erst dann zeigt es sich doch in seiner Stärke, wenn es diesen Widerlegungsversuchen standhält. Also der Schritt von der Verifikation zu dem, was Popper dann die Falsifikation genannt hat. (Erzählerin Oder in Poppers eigenen Worten: 04 O-Ton Popper Erst kommt die Theorie, die spekulative Erklärung oder wenn Sie wollen: die Hypothese oder Vermutung oder das Raten, ... und dann versucht man, Experimente zu machen, um diese Theorie dann zu überprüfen. Und hier ist es wichtig, dass die Experimente nur anscheinend daraufhin angelegt sind, um die Theorie zu beweisen. In Wirklichkeit müssen die Experimente daraufhin angelegt sein, die Theorie wenn möglich zu widerlegen. Der Wissenschaftler ist sich dessen oft gar nicht bewusst. Bewusst will er seine Theorie stützen, aber nur solche Experimente können eine Theorie stützen, deren Ausgang die Theorie widerlegen könnte.) Erzählerin Gedanken, die der reife Philosoph mit über 80 Jahren formuliert. Im Grunde aber war schon der junge Popper 1919, wenn man seiner Autobiographie glauben will, philosophisch an genau diesem Punkt angelangt: Zitator Im Winter 1919/20 hatte ich das Problem der Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft formuliert und gelöst, aber nicht der Veröffentlichung für wert gehalten. Erzählerin Popper beschäftigte sich um sein 20. Lebensjahr herum mit Mathematik, Physik und Philosophie eher aus persönlichem Wissensdrang. Mit seiner beruflichen Zukunft hatte das alles zunächst nichts zu tun. Seine Pläne waren bescheidener, und sie hatten mit seiner Abkehr vom Sozialismus zu tun. 05 O-Ton Popper Ich habe gegen einige Freunde, die auch Sozialisten waren, reagiert. Diese Freunde haben es nämlich als selbstverständlich angesehen, dass „wir“ die zukünftigen Führer der Arbeiterschaft sein werden. Das hat mir so missfallen, dass ich mich entschlossen habe, selbst Arbeiter zu werden ... Ich habe zuerst versucht, Straßenarbeiter zu werden..., aber nach einigen Tagen habe ich das aufgeben müssen, dazu war ich nicht imstande ... Als nächstes habe ich versucht, Tischler zu werden. Ich wurde Tischlerlehrling bei einem kleinen Tischlermeister, der eine Werkstatt in Wien in der Gumpendorfer Straße gehabt hat. Ich war zwei Jahre als Lehrling bei ihm und habe dann eine Gesellenprüfung gemacht. (Erzählerin Das Gesellenstück, ein Schränkchen, stand angeblich bis zu Poppers Tod in seinem Haus in Penn, und Besuchern wurde nicht ohne Stolz vorgeführt, dass sich die Schubladen noch immer einwandfrei rausziehen und reinschieben ließen. Seinem Wiener Tischlermeister Adalbert Pösch, hat er in seiner Autobiographie ein liebevolles Andenken bewahrt: Zitator Einmal erzählte er mir, dass er viele Jahre lang an verschiedenen Modellen für ein Perpetuum mobile gearbeitet habe. Nachdenklich setzte er hinzu: ‚Da sagn’s, dass ma‘ so was net mach’n kann; aber wenn amal eina ein’s g’macht hat, dann wer’n s‘ schon anders red’n!‘ ... Ich vermute, dass ich über Erkenntnistheorie mehr von meinem lieben, allwissenden Meister Pösch gelernt habe als von irgendeinem anderen meiner Lehrer. Keiner hat so viel dazu beigetragen, mich zu einem Jünger von Sokrates zu machen. Denn mein Lehrer lehrte mich nicht nur, dass ich nichts wusste, sondern auch, dass die einzige Weisheit, die zu erwerben ich hoffen konnte, das sokratische Wissen von der Unendlichkeit des Nichtwissens war.) Erzählerin Neben seiner Tischlerlehre holt er privat das Abitur nach und gehört ab 1925 zum ersten Studienjahrgang des neuen reformpädagogisch orientierten Pädagogischen Instituts der Stadt Wien. Er engagiert sich als Sozialarbeiter und verdient seinen Unterhalt als Nachhilfelehrer für amerikanische Studenten. 1930 schließlich wird er als Lehrer für Mathematik und Physik angestellt und heiratet seine Studienkollegin Josefine Henninger, mit der bis zu ihrem Tod 1985 zusammenbleibt. „Hennie“, seine strengste philosophische Kritikerin, wie er einmal schreibt. Zitator Ihr Anteil an meiner Arbeit war ... mindestens so aufreibend wie meiner. Erzählerin Anfang der 1930er Jahre beginnt er, seine philosophischen Gedanken niederzuschreiben, angeregt durch seine Frau und durch einzelne Mitglieder des Wiener Kreises. Zitator Damals hatte ich keinen weiteren Ehrgeiz, als Schulkinder zu unterrichten. Des Unterrichtens wurde ich erst ein wenig müde, nachdem meine ‚Logik der Forschung‘ im November 1934 erschienen war. Erzählerin In der „Logik der Forschung“ geht es unter anderem um die Frage, ob und wie man aufgrund von Einzelbeobachtungen allgemeine Naturgesetze aufstellen kann. Popper ist sicher: man kann es nicht. Der Schritt von der empirischen Beobachtung zu einer allgemeinen, sicheren, also absolut gültigen Theorie ist unzulässig. Die These etwa, dass alle Schwäne weiß sind, gilt nur so lange, bis ein schwarzer auftaucht und die These falsifiziert, also widerlegt ist. Die These, dass alles Kupfer Strom leitet, gilt nur, solange man nicht alles Kupfer im Universum überprüft hat. Zitator Unser bestes Wissen ist das großartige naturwissenschaftliche Wissen, das wir in 2500 Jahren geschaffen haben. Aber die Naturwissenschaften bestehen eben nur aus Vermutungen, aus Hypothesen. Erzählerin In dieser Hinsicht ist Popper zum einen ein leidenschaftlicher Wissenschaftler, zum anderen aber ein ebenso leidenschaftlicher Kritiker ihrer Dogmen und Gewissheiten. 06 O-Ton Popper Es gibt natürlich einfache Sätze, von denen wir wissen, dass sie wahr sind ... Denn wenn ich z.B. den Satz aufstelle: Heute regnet es, dann weiß ich, ... heute regnet es oder heute regnet es nicht, einer dieser beiden Sätze ist sicher wahr, und einer der Sätze ist sicher falsch ... Die mehr interessanten Sätze, für die müssen wir die Frage der Wahrheit durch kritische Diskussion, müssen wir der Frage, ob sie wahr oder falsch sind, näherkommen. Und die wirklich schwierigen wissenschaftlichen Sätze bleiben alle immer Vermutungen, die sehr gute Vermutungen sein können und die sehr gut bestätigte, bewährte Vermutungen sein können, aber sie bleiben doch immer wieder Vermutungen, und wir finden immer heraus, dass unsere Theorien an Stellen falsch sind, wo wir es nicht vorausgesehen haben. Erzählerin Popper misstraut jeder Form von Dogmatismus, jedem Absolutheitsanspruch, sowohl in der Wissenschaft als auch in der Politik. 07 O-Ton Popper Das wichtigste ist, all jenen großen Propheten zu misstrauen, die eine Patentlösung in der Tasche haben und euch sagen: Wenn ihr mir nur volle Gewalt gebt, dann werde ich euch in den Himmel führen. Die Antwort darauf ist: wir geben niemandem volle Gewalt über uns. Erzählerin 1937 nimmt er das Angebot einer Dozentur für Philosophie in Neuseeland an und wird erst 1946 wieder nach Europa zurückkehren. In Neuseeland schreibt er sein zweites Hauptwerk: „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“. Er analysiert darin, ohne Hitler oder Stalin namentlich zu erwähnen, auf welchem geistesgeschichtlichen Hintergrund es zur kriegerischen Eskalation in Europa kommen konnte. 08 Zsp Geier „Da sind natürlich auch Dogmen, wahrheitsüberzeugte Täter am Werk: der Bolschewismus auf der einen Seite mit seiner Utopie einer klassenlosen Gesellschaft, die aber dann in eine Zwangsgesellschaft bolschewistischen Terrors ausmündete, und der Faschismus, auch ein Heilsversprechen für das deutsche Volk, mit katastrophalen Konsequenzen. ... Sie stellen sich keiner Prüfung. Sie gehen von einer Dogmatik aus, die sie politisch durchsetzen, und zwar bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen, die die ganze Welt in den Strudel des Abgrunds zieht. Gegen beide opponiert er - Erzählerin … so der Philosoph Manfred Geier, und setzt dagegen einen Gesellschaftsentwurf, der bescheiden nach Lösungen für konkrete Probleme sucht. Das Buch ist zugleich ein Plädoyer für die Demokratie westlichen Zuschnitts. Demokratie und offene Gesellschaft definieren sich laut Popper allerdings nicht, indem das Volk herrscht, sondern dadurch, dass das Volk seine Regierung ohne Blutvergießen, nämlich durch Wahlen, zu Fall bringen kann. 09 O-Ton Popper Ja, Sie haben recht, es ist ein Kriegsbuch ... Wie gesagt, es heißt „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“. Die Feinde sind hauptsächlich die Faschisten, die Nazis, aber auch die kommunistische Diktatur ... Und was ich bei der offenen Gesellschaft gemeint habe, war eine Gesellschaft, sagen wir, in der man frei atmen kann, frei denken kann, in der jeder Mensch einen Wert hat und in der die Gesellschaft keine überflüssigen Zwänge über die Menschen ausübt. Ja, es gibt Gesellschaften, die mehr oder weniger offen sind, und es gibt Gesellschaften vor allem, die gar nicht offen sind ... Die Grundidee der ganzen Demokratie ist, die Macht zu beschränken und zu kontrollieren. Nicht zu viel Macht, das ist der Grundgedanke. Die Macht muss verteilt sein, damit nicht zu viel Macht in einer Hand ist. Erzählerin Alles Leben, alles Forschen, alle Politik, auch alles moralisch Gute ist für Popper letztlich unvollkommen und unvollendet. Popper propagiert dagegen eine Sozialtechnik der kleinen Schritte und … Zitator Methoden, die sich bewusst als ‚Stückwerk‘ und ‚Herumbasteln‘ verstehen und in Verbindung mit kritischer Analyse das beste Mittel zur Erlangung praktischer Resultate in den Sozial- wie in den Naturwissenschaften sind. Erzählerin Diese Stückwerktheorie hat ihn in einen scharfen Gegensatz zu den neomarxistischen Denkern der Frankfurter Schule gebracht, zu Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Jürgen Habermas, gipfelnd im sogenannten Positivismusstreit, der zum Teil bis heute das Bild Poppers in der deutschen Öffentlichkeit bestimmt. 10 Zsp Geier Dieser pragmatische gesellschaftliche Ansatz hat Popper in Deutschland viel Kritik eingetragen. Popper, der an der London School of Economics lehrte, galt – so sehr auch die Kritik im Zentrum seiner Theorie steht - als Philosoph des Establishments, was in der aufgeheizten Atmosphäre der 60er Jahre dazu führte, dass man Popper als Positivisten abstempelte. Es bildeten sich Fraktionen, Streitschriften gingen hin und her ... und dadurch entstand dann dieser Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, der sehr stark polarisierte und eine Überpolarisierung vornahm, die meines Erachtens dazu führte, dass Popper in West-Deutschland sehr stark unterschätzt worden ist und von den rebellischen jungen Menschen und Philosophen sehr schnell ad acta gelegt worden ist. Heute ist er für mich der Sieger in diesem Streit. Erzählerin Bis kurz vor seinem Tod 1994 reist Popper durch die Welt, hält Vorträge, gibt Gastvorlesungen, trifft sich mit Politikern und Religionsführern, wirbt für eine offene Gesellschaft und bekämpft jede Art von Dogmatismus und Zynismus. Seinen Optimismus verliert er bis zum Schluss nicht, einen Optimismus, wie er einmal präzisierte, der sich auf die Gegenwart beziehe, nicht aber auf die Zukunft. 11 O-Ton Popper Mir hat meine Frau, wie wir in Amerika waren, aus einer Zeitung ein Interview mit einem der Mondflieger gezeigt. Und er hat gesagt – auf Englisch: I’ve seen some worlds in my days ... was man übersetzen könnte: Ich habe ja verschiedene Welten gesehen, aber ich kann nur sagen, die Erde ist mir doch am liebsten. Diese Bemerkung eines offenbaren Fachmannes scheint mir sehr richtig zu sein. (Wir haben zwar unserer Erde ziemlich übel mitgespielt und sie bös ausgenützt, aber ich glaube, jeder ehrliche Mensch muss sagen, dass die Erde schön ist.) ... Mir scheint die Tradition des Pessimismus eine Verlogenheit zu sein. Irgendwie bejahen wir ja doch alle das Leben, durch das wir gegangen sind, trotz zweier Weltkriege, trotz der Atombombe, trotz Hitler und trotz der Konzentrationslager. Und wir bewundern ja doch die Leute, die in den Konzentrationslagern bis zuletzt durchgehalten haben. Das bedeutet, dass wir das Leben bejahen.…
Bei Planung und Bau neuer Krankenhäuser rückt der Mensch wieder in den Mittelpunkt. Doch welche Umgebung brauchen Kranke, um sich wohlzufühlen und zu genesen? Wie wirken Räume, Gänge, Türen, Licht, Fenster, Wege und Außenbereiche auf deren Genesung? Von Werner Bader Credits Autor dieser Folge: Werner Bader Regie: Kirsten Böttcher Es sprachen: Sebastian Fischer, Rahel Comtesse Technik: Ursula Kirstein Redaktion: Bernhard Kastner Im Interview: Birgit Dietz, Architektin, Schwerpunkte Krankenhausbau und unterstützende, demenzsensible Architektur. Lehrt an der TU München; Professor Christine Nickl-Weller, Architektin; Nickl & Partner Architekten München; Arndt Sänger, Architekt, Nickl & Partner Architekten München; Nina Lutz, Referentin Öffentlichkeitsarbeit Klinikum Agatharied Diese hörenswerten Folgen von Radiowissen könnten Sie auch interessieren: Der heilige Raum - Resonanz zwischen Ort und Mensch JETZT ENTDECKEN Mensch und Raum - Bilder, Vorstellungen, Deutungen JETZT ENTDECKEN Beton in der Architektur - Brutal schön JETZT ENTDECKEN Und noch zwei besondere Empfehlungen der Redaktion: Sherlock Holmes: Aus der Chronik des Dr. Watson Der weltberühmte Meisterdetektiv Sherlock Holmes aus der Londoner Baker Street im Kampf auf Leben und Tod mit dem diabolischen Endgegner Professor Moriarty, der mit seiner mächtigen Verbrecherorganisation ganz Europa terrorisiert. Merkwürdige Todesfälle, eigenartige Rituale, ausländische Agenten, wahnsinnige Adelige und unheimliche Vorgänge. Spannende Fälle aus den 1960er-Jahren: "Aus der Chronik des Dr. Watson", für alle Fans des trockenen britischen Humors . HIER gehts zur Website Ein Zimmer für uns allein Ein Podcast-Tipp für alle, die gerne authentische Geschichten hören: „Ein Zimmer für uns allein“ – zwei Frauen, zwei Generationen und die Frage „Wie hast du das erlebt?“ Hier trifft Paula Lochte immer zwei Frauen aus verschiedenen Generationen und sie sprechen offen und ehrlich über ein Thema, das sie verbindet. Was waren die Kämpfe damals, was sind sie heute? „Ein Zimmer für uns allein“ findet ihr in der ARD-Audiothek und überall, wo’s Podcasts gibt. JETZT ENTDECKEN Literatur: Christine Nickl-Weller, Hans Nickl „Architecture für Gesundheit“ 2021, Braun Publishing Viele Bilder und Materialien, Einblicke in die Planungswelten moderner Krankenhäuser Dietz, B. (2023). Demenzsensible Architektur. Planen und Gestalten für alle Sinne. 2. Auflage. Fraunhofer IRB Verlag Katalog zum Ausstellungsprojekt „Das Kranke(n)haus.Wie Architektur heilen hilft - Building to Heal.New Architecture for Hospitals“ - Lisa Luksch, Tanja C. Vollmer, Andreas Lepik, 15 Seiten, im Internet unter: Website Pinakothek der Moderne Bilder und Beispiele von beispielhaft realisierten Krankenhausbauten Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER . Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: SPRECHER: Wer ein Krankenhaus betritt, sucht Heilung von Krankheit oder besucht einen Menschen auf dem Weg zur Genesung. Oder arbeitet dort. Taucht ein in die Atmosphäre eines speziellen Orts, mit seinen Geräuschen und Gerüchen, seinem Licht und seiner baulichen Gestaltung. Muss man an ein klassisches Krankenhaus denken, wenn man das Klinikum Agatharied bei Miesbach betritt? Nicht unbedingt, so Referentin Nina Lutz: 02 Zsp. Heilsame Architektur Nina Lutz „Was Allererstes auffällt, dass wir einen sehr offenen Eingangsbereich haben, dass wir sehr viel Glas haben, das sehr viel Lichteinfall ermöglicht und dass man nicht das Gefühl hat, man wird eingeengt, sondern man hat ein Gefühl der Offenheit, ein Gefühl der Übersicht. Dass die Patienten sich zurechtfinden und auch die Besucher. Und was hier sehr besonders ist, das ist unser Wasserlauf hier, der eine schöne Geräuschkulisse bietet, der auch die Krankenhausgeräusche, die man so typisch wahrnimmt, auch ein bisschen abdämmt, und für eine schöne Atmosphäre sorgt.“ ATMO Wasserlauf und Park Musik 1: Ein Toast – 1:05 Min SPECHERIN: Glas und Licht, Offenheit und Übersicht, Natur in Form eines Wasserlaufs. Kein Klackern, kein Türenknallen, keine Rollgeräusche von Betten, keine hektischen Aktionen. Den langen Gang, die Magistrale, die durch das Klinikum Agatharied führt, flankiert im Eingangsbereich eine hölzerne Rampe, die sich von links nach rechts, von rechts nach links den Weg ins obere Stockwerk bahnt. Von der Cafeteria im Gang mit der großen Glasfront blickt man auf einen Teich und Pflanzen. SPRECHER: Im Klinikum Agatharied wird das Draußen nach Drinnen geholt, man fühlt sich verbunden mit der natürlichen Umgebung des Krankenhauses, das sich mit seiner langen Hauptachse und den einzelnen Klinikbereichen, den Modulen wie Innere Medizin, Geriatrie oder Orthopädie mit nur wenigen Stockwerken an den Hang schmiegt und immer wieder den Blick auf die Voralpenlandschaft freigibt. SPRECHERIN: Das Klinikum Agatharied wurde von 1994 bis 1998 gebaut, geplant hat es das Münchner Architekturbüro Nickl-Weller. Es markiert eine neue Ära im Krankenhausbau des 20.Jahrhunderts. Der war zuletzt von technik-dominierten Großbauten geprägt, Hochhauskliniken wie etwa die Uniklinik in München Großhadern. Praktisch, steril, uni-form. Architektin Christine Nickl-Weller: 03 Zsp. Heilsame Architektur Nickl-Weller „Warum war es uniform? Weil man gedacht hat, dass der Zenit der medizinischen Entwicklung erreicht ist. Davon gehe ich aus. Also, man hat genau für diesen Punkt gebaut. Für die Erkenntnisse des Jahres zwischen 1970, 80 bis 85 ungefähr. Und man hat nie gedacht, dass die Radiologie in den OP einzieht. Also da sind wir heute.“ SPRECHER: Radiologie, Sonographie, MRT, digitale Medizin, Robotik – die technische Entwicklung in der Medizin ist nicht stehengeblieben, sie schritt und schreitet unaufhaltsam voran. Mit Folgen für das Krankenhaus und die Menschen, die darin arbeiten und die, die darin gesund werden sollen. 04 Zsp. Heilsame Architektur „Wenn Sie heute in Großhadern gerade in die Radiologie kommen, die bordet über, so eng ist es da. Also, die braucht Luft. Und das ist in diesen Gebäuden nicht möglich. Die haben schon allein über die „Hochhaus-Scheibe“ ein klar begrenztes Baufeld, da geht nichts mehr. Wir hatten 3-Bett-Zimmer in dieser Zeit, wenn sie die auf die heute üblichen 2-Bett-Zimmer reduzieren, haben sie so wenige Betten für eine Pflegestation. Sie können nichts koppeln, Sie können nichts ändern. Sie haben genau eine Art von Funktion in einem Bereich. Und das funktioniert nicht mehr.“ Musik 2: Data stream – 1:04 Min SPRECHERIN: Fast jeder kennt Großkliniken wie das Klinikum Großhadern, oder war schon einmal Patient dort. Erbaut zwischen 1967 und 1977, Sichtbeton. Glatte Fronten, ein Riegel in der Landschaft, kühl, technokratisch. Damals eine der größten Unikliniken in Deutschland und Europa. Oder das Zentralklinikum Augsburg, heute Uniklinikum. Erbaut zwischen 1974 und 1982. Vier Flügel jeweils über 10 Stockwerke hoch, weithin sichtbar in der Landschaft. 23 Kliniken, 6 Institute, 7.400 Mitarbeitende, 1.140 Ärzte und Ärztinnen und 3.000 Pflegende. 1.741 Betten, höchste Versorgungsstufe. SPRECHER: Beeindruckende Zahlen, imposante Bauwerke: Groß, unübersehbar, technisch gesehen das Beste ihrer Zeit. Doch wo bleibt der Mensch? Wer hat sich nicht schon einmal verlaufen in den unendlichen Gängen und Stockwerken dieser Häuser? Wer fühlte sich nicht eingeschüchtert allein schon beim Anblick, beim Betreten dieser Großkliniken? Dieser Typ Krankenhaus ist wohl ein Auslaufmodell. Beide Unikliniken, Großhadern und Augsburg werden abgerissen und neu gebaut. Sie sind in die Jahre gekommen. Offenbar auch der reine „Technik-Optimismus“ ihrer Bauzeit. Musik 3: Thema – 37 Sek SPRECHERIN: Schon in den 1960iger Jahren gab es einen Bewusstseinswandel im Krankenhausbau, sagt die Architektin Birgit Dietz. Stichwort: „Humanisierung“. Der Mensch sollte wieder in den Mittelpunkt der medizinischen Versorgung rücken, gerade in den großen Kliniken. Auf die Frage „Wie fühlen Sie sich im Krankenhaus?“ gab es schon damals in Allensbach-Umfragen Rückmeldungen von Patienten, die ähnlich den heutigen sind. Birgit Dietz: 05 Zsp. Heilsame Architektur Birgit Dietz „Zum Beispiel, man hat Angst, man kann sich nicht wehren, es ist endloses Warten, die Architektur ist kalt und nüchtern eingerichtet. Also, Themen, die man damals schon hatte, sind bis in die 1970iger Jahre in diesen Allensbach-Umfragen immer wieder auch dokumentiert. Und, ja, das sind die Themen, die wir jetzt auch leider, immer wieder noch haben. Weil wenn sie kucken, Klinikum Großhadern oder sowas, die sind natürlich entsprechend alt, in die Jahre gekommen. Man baut heute Krankenhäuser tatsächlich anders.“ SPRECHER: Birgit Dietz engagiert sich im Vorstand des Verbands für Krankenhausbau und Gesundheitswesen, forscht seit Langem zu menschenfreundlicher Architektur in den Kliniken. In der Ausstellung „Das kranke Haus“, 2023 in der Münchner Pinakothek der Moderne zu sehen, befragte sie mit ihren Studierenden die Besucher zu ihren Bedürfnissen in einem Krankenhaus. Viele der Antworten, die auf Poster geschrieben wurden, drücken auch Wünsche aus, für die Architekten erstmal nicht zuständig sind. 06 Zsp. Heilsame Architektur Birgit Dietz „Wir wünschen uns mehr Personal, Personal hilft uns unglaublich beim Gesundwerden. Die Kommunikation muss sich ändern. Patienten muss man zuhören. Man muss sie ernst nehmen und sie ausreden lassen. Ein anderer schreibt ganz einfach „eine Aussicht in die Natur, in die Berge“. Was uns da aufgefallen ist, dass sehr viel Negatives über das Essen beschrieben worden ist. Und natürlich ist das auch ein Thema, wenn ich jetzt an einen Patienten mit einer Allergie denke. Denn das ist in Krankenhäusern allem Anschein nach noch immer schwierig, auf bestimmte Allergien zu achten.“ Musik 4: On the shores of lake Zurich – 39 Sek SPRECHERIN: Menschen auf dem Weg der Genesung wollen sich ernst genommen, geborgen und sicher fühlen. Dazu gehört auch eine gute Orientierung, sagt Birgit Dietz. Patienten müssten wissen, wo im Krankenhaus sie sich befinden. Brauchen ein Haus mit menschlichem Maßstab, mit Blickverbindungen. Und Schutz vor möglichen Stürzen und Verletzungen. Ein weiterer wichtiger Baustein fürs Wohlfühlen ist die Akustik. Lärm auf dem Flur, Türenschlagen, laute Klimaanlagen kosten Genesenden im Krankenhaus, aber auch den Mitarbeitenden, viele Nerven. 07 Zsp. Heilsame Architektur „Es geht um schalldämmende Türen, Wände, Decken. Wir verbauen schallabsorbierende Materialien. Wie Akustik-Unterdecken oder Schallabsorber an der Wand, die als Bild getarnt, auch optisch angenehm wirken können. Und im Bad fliesen wir zum Beispiel nicht bis an die Decke, um die schallharten Materialien zu reduzieren.“ Musik 5: Ein Toast – siehe vorn – 34 Sek SPRECHER: Auch auf das Licht in den Zimmern, Fluren und Gängen müsse man beim Bau eines Krankenhauses achten. Wenn Architektur heilen helfen soll, so die Architektin, muss man fragen: Wie viel Kunstlicht ist nötig, wie viel natürliches Licht ist möglich? Natürliches Licht im Raum oder bei einem Spaziergang im Garten, unterstütze den Tag-Nacht-Rhythmus, sorge für Wohlbefinden. SPRECHERIN: Wegbereiter einer „Healing architecture“, also einer Architektur die heilen hilft, war eine Studie aus den USA in den 1980iger Jahren. Zwei Gruppen von Patienten wurden verglichen, die im Krankenhaus nach identischen Operationen durch ihre Zimmerfenster entweder auf einen Park mit Bäumen oder auf eine Betonmauer sehen konnten. Patienten, die auf den Park sehen konnten, benötigten deutlich weniger Schmerzmittel, litten seltener an Depressionen und konnten im Schnitt einen Tag früher nach Hause entlassen werden als die Patienten der Vergleichsgruppe, so das Ergebnis. In der Folge gab es eine Reihe von weiteren Studien zu dem Thema. Musik 6: Data stream – siehe vorn – 35 Sek SPRECHER: Inzwischen stehen Krankenhäuser vor neuen Herausforderungen. So hat die Corona-Pandemie gezeigt, wie baulich ungeeignet viele Krankenhäuser für die Bekämpfung einer Pandemie sind. Dazu brauche es separate Zugänge von außen, nicht wie sonst üblich einen zentralen Zugang für Alle, Personal, Besucher und Kranke. Mehr Einzelzimmer und die Möglichkeit, einzelne Bereiche nach Bedarf vom normalen Krankenhausbetrieb zu isolieren. 08 Zsp. Heilsame Architektur „Da geht’s um Isolierstationen, so wie früher, als TBC noch ein Thema war. Dass da Schleusen sind, aber dass da auch ein Balkon vor den Zimmern ist, so dass man einfach raustreten könnte und ein bisschen Frischluft oder auch Sonne abkriegt. Das sind die Zugangssituationen, die man noch einmal anschauen müsste, Schleusen, Quarantänezonen und vor allem diese Einzelzimmer-Möglichkeit, die am schnellsten wohl durchschlagende Wirkung erzielen kann.“ SPRECHER: Immer wichtiger beim Bau neuer Krankenhäuser sind auch die hygienischen Anforderungen, die Baumaterialien erfüllen sollten. Denn: Jahr für Jahr erkranken 500.000 Menschen an einer „Krankenhausinfektion“, zirka 10.000 Menschen jährlich sterben in Deutschland daran. Durch den jahrzehntelangen Einsatz von Antibiotika sind mittlerweile sehr viele Erreger resistent, etwa gegen Antibiotika bei einer Lungenentzündung. SPRECHERIN: Entsprechende Materialien könnten helfen, die Übertragungsketten zu stoppen, so Architektin Birgit Dietz. Oberflächen müssen über ihren gesamten Lebenszyklus leicht zu reinigen sein. Mechanischen Beanspruchungen standhalten, auch Chemikalien, Reinigungsmitteln. Neuere Forschungen zeigten: Bis zu einem Drittel aller Infektionen in Krankenhäusern könnten durch bessere Materialien verhindert werden. Musik 7: Verlogene Traditionen – 55 Sek SPRECHER: Auch auf die Probleme und Krankheiten einer alternden Gesellschaft müssen moderne Krankenhäuser zunehmend reagieren. Nach Angaben des Bundesfamilienministeriums leben in Deutschland rund 1,8 Millionen Menschen mit einer Demenz. Bis zum Jahr 2050 wird die Zahl der Betroffenen voraussichtlich auf 2,8 Millionen steigen. Über die Hälfte der Menschen in Krankenhäusern ist aktuell über 65 Jahre alt, fast 40 Prozent von ihnen leiden an kognitiven Störungen und Demenz. Dafür brauche es keine eigene Architektur, so Birgit Dietz. Doch die Krankenhäuser müssten mehr Orientierung bieten, farbliche Kontraste schaffen. Etwa in Bad und Toilette, wo die Sturzgefahr für demente Menschen besonders groß ist. 09 Zsp. Heilsame Architektur „Wenn Sie sich so ein Bad „Weiß in Weiß“ vorstellen, es gibt da keinen Kontrast, es gibt zwar netterweise eine Aufstehhilfe oder Ähnliches, aber Sie finden diese weiße Stange auf der weißen Fliese nicht. Einfach nur, weil Sie es nicht sehen. Sie finden den Weg nach Draußen aus dem Bad nicht, weil die weiße Tür in der weißen Wand schlicht und einfach nicht zu erkennen ist. Sie können nicht spülen, weil der weiße Knopf auf der weißen Wand nicht zu finden ist. Das heißt: Da gibt es eine ganze Menge an Themen, wo ich mir denke, das schadet anderen Patienten auch nicht. Lasst uns das doch im ganzen Krankenhaus realisieren.“ Musik 8: Ein Toast – siehe vorn – 1:00 Min SPRECHERIN: Schauen wir noch einmal ins Klinikum Agatharied, fertiggestellt 1998. Die moderne Akutklinik wird erschlossen über eine zentrale Linie, die Magistrale. Von ihr weg führen die einzelnen Module, elf Fachabteilungen von Darmkrebszentrum, Schulter- und Ellenbogenklinik, Traumazentrum bis zu Geriatrie und Psychiatrie. Die Intensivmedizin ist im hinteren Teil an den Hang gelagert, weitere Module sind auf der anderen Seite der Magistrale. Nie höher als drei Stockwerke, stets mit Lichthöfen, die Patientenzimmer gehen nach außen. ATMO Klinikum SPRECHER: Bei unserer Führung mit Architekt Arndt Sänger und Referentin Nina Lutz haben wir den hellen Eingangsbereich verlassen, sind vorbei an einer Cafeteria, haben den fast kreisrunden Andachtsraum betreten, der, mit viel Holz und Licht von oben, die nötige Wärme für Trost und erholsame Gedanken bietet. An einer Sitzgruppe, ein paar Schritte weiter, können Angehörige und Patienten ausruhen, sich treffen, miteinander reden. SPRECHERIN: In den Fluren gibt es viel Tageslicht, die großen Fenster gehen bis zum Boden, man blickt in grüne Innenhöfe mit Schilf, Sträuchern, einem Kirschbaum. Die Magistrale ist Verteiler und bietet Aufenthaltsbereiche, so Architekt Arndt Sänger. Sie geht weit über das Funktionale hinaus, eröffnet Kommunikation. 10 Zsp. Heilsame Architektur „Mit der Kommunikation auch so ein bisschen aus dem Krankenhaus rauskommen, in die normale Umwelt, so dass man Kontakt mit Nachbarn pflegen kann. Hier mit Zimmer-Nachbarn im öffentlichen Aufenthaltsbereich. Das werden wir gleich sehen, dass auch in diesen einzelnen Kuben mit viel Glas und offenen Materialien gearbeitet wird, damit man keine Isolation verspürt, dass man das Personal sehen kann, dass man Besucher sehen kann, dass man Leben auf den Gängen wahrnimmt, und dass man nicht total isoliert auf seiner Station oder auf seinem Zimmer liegt.“ SPRECHER: Die „Kuben“, die einzelnen Stationen in den Modulen haben je einen zentralen Lichthof, um den sich die Zimmer und der Stützpunkt des Personals gruppieren. Um den Lichthof kann man herumlaufen oder sich dort aufhalten. Wer aus dem Zimmer tritt, hat Blickkontakt mit Patienten und Personal, man sei nie allein und fühle sich behütet, so der Architekt. Die Patientenzimmer sind Zweier-Zimmer und bieten dennoch Privatheit. 11 Zsp. Heilsame Architektur „Also die Betten stehen nicht wie sonst im Krankenhaus nebeneinander, sondern eines steht hier, und das andere steht gegenüber, auf der anderen Seite. Und durch die Raumkonfiguration hat jeder für sich einen eigenen Bereich. Die können miteinander kommunizieren durch das schräg gegenüberstellen von den Betten, und jeder hat den Blick nach Draußen. Der Wintergarten, durch den sie schauen, also die Hälfte der Fassade wird durch den Wintergarten definiert, verglast von oben nach unten, und die zweite Hälfte durch ein Fenster direkt nach Draußen. Das heißt, sie haben frische Luft zum einen oder vor-temperierte Luft durch den Wintergarten. Das vermittelt so etwas wie Zuhause im weitesten Sinne, dass man in einem Wohnbereich sich befindet und nicht in einem Krankenhaus. Und das ist dieser heilungsunterstützende Aspekt, der hier im Vordergrund stand bei der Konzeption dieses Krankenhauses.“ Musik 9: On the Shores of Lake Zurich – siehe vorn – 1:30 Min SPRECHERIN: Architektur, die heilen hilft? Vieles davon ist im Klinikum Agatharied bereits realisiert. Doch die Entwicklung im Krankenhausbau geht weiter, entsprechend dem medizinisch-technischen Fortschritt. Pandemien und neuen Krankheiten. Personalmangel und Kostendruck. Auch müssen viele Kliniken fit gemacht werden für den Klimawandel, Hitze, extremes Wetter. SPRECHER: Ein Krankenhaus sei eben keine Maschine, sagt Architektin Christine Nickl-Weller. Über 15 Jahre hatte sie die Professur für Gesundheitsbauten an der TU Berlin inne, hat den Begriff „healing architecture“, also, „Architektur, die heilen hilft“, maßgeblich geprägt. Im Mittelpunkt jedes Krankenhauses, ob Alt- oder Neubau, sollte der Mensch sein, der krank ist und dort Heilung, Genesung sucht, so Christine Nickl-Weller. SPRECHERIN: Kranke und Genesende wollen ihre Autonomie behalten können, Orientierung und Selbstständigkeit erleben. Und nicht Entmündigung. Gute Krankenhaus-Architektur kann dafür sorgen. Auch Rückzugsorte schaffen, das Innen und Außen zusammenbringen, Privatheit ermöglichen. Dafür braucht es mehr Einzelzimmer. Und dazu abgetrennte Bereiche und eine Erschließung, die das Ausbreiten von Infektionen verhindert. Die Architektin spricht von künftigen Krankenhäusern als „Exzellenz-Zentren“. 12 Zsp. Heilsame Architektur Christine Nickl-Weller „Die Exzellenz-Zentren müssen die anderen mitbedienen. Da muss der Chirurg, Spezialist auf seinem Gebiet, nicht nur in dem einen Haus, sondern im anderen mit-operieren, um diese Exzellenz wirklich überall hinzutragen, Dann kann ich dieses hohe Niveau der Gesundheitsversorgung bei uns halten. Und ich muss dann in den Quartieren natürlich kleine Anlaufpunkte, MVZ’s und dergleichen haben. Die aber auch über ein bestimmtes Niveau verfügen müssen.“ Musik 10: At a glance – 1:29 Min SPRECHERIN: Im Schnitt zehn Jahre dauert es vom Entwurf über die Genehmigung und Bau bis zum fertigen Krankenhaus, an die 60 Jahre kann es die zeitgemäßen Anforderungen erfüllen. Derzeit entstehen in Bayern, in Deutschland, in ganz Europa viele neue Krankenhäuser, es kommt eine neue Generation. Mit einer „Architektur, die heilen hilft“ und für künftige Herausforderungen gewappnet ist. Etwa in Memmingen, dort soll der rund 500 Millionen Euro teure Neubau des Klinikums 2029 in Betrieb gehen. SPRECHER: Laut Plan sollen in dem Neubau medizinische Bereiche, die interdisziplinär zusammenarbeiten, auch räumlich nah beieinander liegen. Auf den knapp 35.000 Quadratmetern Nutzfläche mit 480 stationären Betten in Ein- und Zweibettzimmern soll eine "Wohlfühlatmosphäre für Patienten und Mitarbeiter" entstehen. Es gibt eine Pandemiestation mit 28 Betten, mit separatem Zugang und eigenem Aufzug. Und Pufferflächen für den Fall, dass Operationssäle und Funktionsräume erweitert werden müssen. SPRECHERIN: Auch das Kantonsspital in Baden bei Zürich gehört bereits zu einer neuen Generation von Krankenhäusern – Anfang 2025 wurde es eröffnet. 360 Betten, die komplette Versorgung. Im Fokus des zentralen Baus, geplant ab 2015: die „Lebenswelt und die Arbeitswelt Krankenhaus“. 13 Zsp. Heilsame Architektur „Wir haben alle Betten nach außen, also demokratisch nach außen. Und die Erschließungen sind von innen und in diesen inneren Bereichen gibt’s dann eben die Arbeitswelten, die Welt der Ärzte und die Versorgungswelt. Das hat also erstmalig nicht mehr nur gerade Flure, hat innen eine Vielzahl von Höfen. Die aber immer mit einer Biegung versehen sind. In den Bettenhäusern sind sechs unterschiedliche Hof-Typen, auch unterschiedlich bepflanzt, die Licht bis in die Untergeschosse bringen, unten enger, nach oben sich weiten.“ SPRECHER: Viel Licht, viel Grün. Gänge und Höfe, die Orientierung schaffen, zum Verweilen einladen und Kommunikation ermöglichen. Die eine Perspektive in die Welt da draußen bieten, wohin sich jede und jeder Genesende sehnt. Ferner brauche es mehr Privatsphäre und Schutz vor Ansteckungen durch Einzelzimmer für die Patienten. Auch das Personal soll sich wohlfühlen, gerne „sein“ Krankenhaus betreten. SPRECHERIN: Dazu eine exzellente medizinische Versorgung, räumlich gut angeordnet mit kurzen Wegen, Verbindungen und Trennmöglichkeiten. Variabel für aktuelle und neue Herausforderungen, die – Stichwort Pandemie – mit Sicherheit kommen werden. Musik 11: On the Shores of Lake Zurich – siehe vorn – 1.15 Min SPRECHER: „Festigkeit, Nützlichkeit, Schönheit“ – diese drei Kriterien guter Architektur hat bereits vor 2.000 Jahren der römische Architekt und Ingenieur Vitruv postuliert. Ein Bauwerk habe gut gebaut und stabil zu sein, es solle den Nutzern dienen und auch schön sein. Dass gute Architektur im Fall eines Krankenhauses auch die Heilung unterstützen kann, hat bislang noch keiner ernsthaft verlangt. Die beiden Architektinnen Birgit Dietz und Christine Nickl-Weller formulieren es so: 14 Zsp. Heilsame Architektur Birgit Dietz und Christine Nickl-Weller Alles, was man handfest tun kann, kann ich tatsächlich zusagen, dass wir das auf dem Schirm haben. Dass wir es versuchen, dass wir das bestmöglich machen. Ich hoffe einfach, dass wir in fünf Jahren, in zehn Jahren dann sagen können, „schaut her, so haben wir es erreicht, so haben wir es gemacht“ und wir haben Krankenhäuser, die vielleicht nicht heilen, aber die unterstützende Architektur für die Heilung anbieten, gebaut. Also per se kann Architektur überhaupt nicht heilen, das ist ja völlig klar. Aber es kann helfen, gesund zu werden. Das ist etwas ganz was anderes.“…
Sie wurde mit Freiheitspathos aufgeladen, für Nationalismus und Kriegspropaganda genutzt, erweitert und gekürzt: Die deutsche Nationalhymne. Sie ist ein Spiegelbild unserer Geschichte der letzten 200 Jahre. Von Christian Schuler Credits Autor dieser Folge: Christian Schuler Regie: Rainer Schaller Es sprachen: Gabi Hinterstoißer, Carsten Fabian Technik: Simon Lobenhofer Redaktion: Katharina Hübel, Karin Becker Im Interview: Dr. Jörg Koch, Historiker und Autor Diese hörenswerten Folgen von Radiowissen könnten Sie auch interessieren: Nationalismus - Renaissance einer totgeglaubten Weltanschauung? JETZT ENTDECKEN Olympia-Hymnen - Musikalisches Olympia Branding JETZT ENTDECKEN Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir: ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks. DAS KALENDERBLATT Linktipps: Jörg Koch: Die Gedanken sind frei. August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Ein Dichterleben. Lau Verlag, Reinbek 2024 Jörg Koch, Einigkeit und Recht und Freiheit. Die Geschichte der deutschen Nationalhymne, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2021 Clemens Escher: "Deutschland, Deutschland, Du mein Alles!" Die Deutschen auf der Suche nach ihrer Nationalhymne 1949-1952, Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2017. Jürgen Zeichner: Einigkeit und Recht und Freiheit – Zur Rezeptionsgeschichte von Text und Melodie des Deutschlandliedes seit 1933, PapyRossa – Hochschulschriften 76, Köln 2 Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER . Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: Erzählerin Fußball-Weltmeisterschaft 2006. Deutschland in Schwarz-Rot-Gold. Fähnchen flattern aus Autofenstern, große und kleine Flaggen hängen von Fenstern und Balkonen. Ein Meer von Nationalfarben auf Fanmeilen und in den Stadien. Und aus den Kehlen von zigtausenden Fans erschallt vor dem Anpfiff die deutsche Nationalhymne: „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland ...“, mit einer Inbrunst, wie man sie aus England oder Italien kennt, aber bis dahin weder im geteilten noch im wiedervereinigten Deutschland erlebt hat. Das Wort „Patriotismus“ macht die Runde. Zitat: Zitator Ein fröhlicher Patriotismus, der angemessen ist, andere Länder haben das auch ... Fröhlicher Patriotismus ist was Gutes. Erzählerin So äußerte sich der damalige ZDF-Intendant Markus Schächter vor der Presse. Ermunterung kommt auch aus dem Ausland, etwa vom ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger, einem gebürtigen Fürther, der 1938 mit seiner jüdischen Familie aus Deutschland floh und Folgendes formulierte: Zitat: Zitator Es ist gut, wenn die Deutschen wieder stolz auf ihr Land sind ... Es wurden schreckliche Dinge gemacht, aber nicht von dieser Generation. Erzählerin Eine „Mikro-Welle des Patriotismus“ habe Deutschland erfasst, schreibt der „Stern“ im Sommer 2006: Die Deutschen, heißt es, gehen auf einmal zwanglos mit ihren Nationalsymbolen um, und allein die Tatsache, dass dies kaum noch jemanden erschrecke, erschrecke einige. Zum Beispiel die „Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft“, GEW. Die lässt kurz vor der WM eine 17 Jahre alte Handreichung zum Geschichtsunterricht nachdrucken: „Argumente gegen das Deutschlandlied - Geschichte und Gegenwart eines furchtbaren Lobliedes auf die deutsche Nation“, so der Titel. Die Gewerkschaft arbeitet sich darin nicht nur, aber vor allem an der ersten Strophe des Liedes ab: „Deutschland, Deutschland über alles“. Die Broschüre des GEW stammt aus den späten 1980er Jahren. Damals galten in der alten Bundesrepublik formell alle drei Strophen des Deutschlandliedes noch als Hymne, allerdings wurde bei offiziellen politischen und sportlichen Anlässen nur die dritte Strophe gesungen. Die erste Strophe war aber nicht vergessen, im Gegenteil: sie sorgte immer wieder für Diskussionen. Die Veröffentlichung des GEW hatte also ihren Platz im Debattenumfeld der alten Bundesrepublik. Im Jahr 2006 wirkte sie etwas aus der Zeit gefallen. Denn in den Stadien der Fußball-WM war die erste Strophe nicht zu hören. „Deutschland, Deutschland über alles“ war Geschichte und seit August 1991 nicht mehr Teil der Nationalhymne des nun wiedervereinigten Deutschland, weder offiziell noch inoffiziell. kurzer Musikakzent Erzählerin Nach 1990 hatte sich die Frage gestellt, welches Lied Deutschland zu seiner Nationalhymne bestimmen sollte. Die Frage war, ohne größeren Widerspruch, bald entschieden: durch einen Brief des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker an Bundeskanzler Kohl im August 1991. Zitator: Die 3. Strophe ... hat sich als Symbol bewährt. Sie wird im In- und Ausland gespielt, gesungen und geachtet. Sie bringt die Werte verbindlich zum Ausdruck, denen wir uns als Deutsche, als Europäer und als Teil der Völkergemeinschaft verpflichtet fühlen. Die 3. Strophe des Liedes der Deutschen von Hoffmann von Fallersleben mit der Melodie von Joseph Haydn ist die Nationalhymne für das deutsche Volk. Erzählerin In seinem Antwortschreiben bekräftigte Helmut Kohl diese Auffassung. Damit war die Hymnenfrage entschieden - und ist es bis heute. Von Weizsäcker hatte das Datum seines Schreibens mit Bedacht gewählt: fast auf den Tag genau 150 Jahre zuvor hatte der Dichter Heinrich Hoffmann von Fallersleben das Deutschlandlied geschrieben, während eines Urlaubs auf der damals zu England gehörenden Insel Helgoland. Zsp 3, Jörg Koch Und dort hat er erlebt, wie Gäste aus Frankreich mit der französischen Hymne und Gäste aus England mit „God save the Queen“ begrüßt wurden. Englische Hymne Erzählerin So der Wormser Historiker Jörg Koch, Autor eines Buches über die Geschichte der deutschen Nationalhymne. Zsp 3 (Forts.) Da kamen ihm diese Gedanken und verfasste dann das uns bekannte dreistrophige Lied der Deutschen: „Deutschland, Deutschland über alles“. Damit ist natürlich gemeint nicht ein überheblicher Anspruch Deutschlands gegenüber anderen Ländern, sondern ein Deutschland gegenüber den vielen kleinen Deutsch-Ländern, die Überwindung der Kleinstaaterei fordert er in seinem Lied. Erzählerin Hoffmann von Fallersleben war Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Breslau. Um von Breslau nach Helgoland zu reisen, musste er als Bewohner des „Deutschen Bundes“ 700 Kilometer zurücklegen, zu Fuß, mit der Kutsche, teilweise mit dem Zug, zuletzt mit dem Schiff. Das dauerte. Auch deshalb, weil viele, meist autoritär regierte Kleinstaaten zu durchqueren waren, in denen unterschiedliche Regeln galten. Zsp 4 Jörg Koch Der Deutsche Bund ... bestand aus 35 souveränen Staaten und vier freien Städten, ... also ein sehr heterogenes Gebilde ... und Hoffmann reiste sehr viel. ... Immer wenn er reiste durch Deutschland, passierte er Grenzen. ... und überall musste der Pass vorgezeigt werden an jeder Grenze. Erzählerin Hoffmanns Gedicht – gerade auch die erste Strophe „Deutschland, Deutschland über alles“ - war also zunächst nach innen gerichtet, als Aufruf an die Deutschen zur Einigkeit, für politische Freiheitsrechte und gegen kleinstaatliche Fürstenwillkür. Zum historischen Hintergrund gehört allerdings auch die außenpolitische Situation, wie Jörg Koch erläutert. Zsp 5 Jörg Koch 1840 kam es zur sogenannten Rhein-Krise, das heißt: Frankreich hatte ja vorher und auch später in der Geschichte immer das Bestreben, den Rhein als natürliche Grenze seines Landes im Osten zu haben.. Und jetzt reagieren einige Dichter, Politiker hier in den deutschen Landen mit sogenannten Rheinliedern, das bekannteste Lied, 1840 gedichtet von Max Schneckenburger, ist die „Wacht am Rhein“, und in dieser Stimmung entsteht natürlich auch das Deutschlandlied ... Es erhebt zwei Forderungen, einmal Überwindung der Kleinstaaterei und dann natürlich die Abgrenzung zu Frankreich. Erzählerin Hoffmann hat sein „Deutschlandlied“ von Anfang an als Hymne verstanden und es dezidiert auf eine Melodie gedichtet, die Joseph Haydn 1796 komponiert hat: als Trost- und Stärkungslied angesichts französischen Revolutionstruppen, die Wien bedrohten, und als Huldigungslied zu Ehren von Franz II., dem letzten Kaiser des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“. „Gott erhalte Franz den Kaiser“ einblenden oder unterlegen, Archiv-Nr. 88038540 101 Erzählerin Diese Kaiserhymne - „Gott erhalte Franz den Kaiser“ - wird später österreichische Nationalhymne und bleibt es bis 1918. Im Gegensatz zu dieser Huldigung an einen absolutistischen Herrscher wirkt Hoffmanns Text eher volkstümlich, geradezu volksliedhaft. Zitator Deutsche Frauen, deutsche Treue, Deutscher Wein und deutscher Sang Sollen in der Welt behalten Ihren alten schönen Klang, Uns zu edler Tat begeistern Unser ganzes Leben lang – Zsp 7, Jörg Koch Ja, das ist natürlich auch die Erfolgsgeschichte dieses Liedes, eine sehr eingängige, einfache Textstruktur, mit einigen Stilmitteln, Alliterationen, Wiederholungen, das kann sich jedes Kind leicht merken Erzählerin Hoffmanns Lied wird bereits wenige Tage nach seiner Entstehung durch Julius Campe in Umlauf gebracht, jenen Verleger, der auch die Werke anderer Freiheitsdichter wie Heinrich Heine und Ludwig Börne publiziert. Das Deutschlandlied erscheint im Umfeld des sogenannten „Vormärz“, einer Bewegung, die eine Einigung Deutschlands unter liberalen, republikanischen Vorzeichen anstrebt. Wenige Wochen nach der Entstehung 1841 wird das „Lied der Deutschen“ bereits erstmals öffentlich aufgeführt. Es erscheint in den folgenden Jahrzehnten in vielen studentischen Liederbüchern, in Sammlungen für Chöre und den musikalischen Hausgebrauch, bleibt aber zunächst ein patriotisches Lied unter vielen. Daran ändert sich zunächst auch nach der Reichsgründung 1871 nichts. „Heil dir im Siegerkranz“ ab hier dem Text unterlegen, 88038540 103 oder instrumental Das Deutsche Reich ist nun zwar ein Nationalstaat mit Berlin als Hauptstadt, einer Reichsflagge und Kaiser Wilhelm I. als Staatsoberhaupt. Aber bei der Proklamation des neuen Staates im Spiegelsaal von Versailles erklingt nicht das Deutschlandlied, sondern die preußische Hymne „Heil dir im Siegerkranz“, das von nun an als „Kaiserhymne“ bei offiziellen Anlässen gesungen wird, auf die Melodie der englischen Nationalhymne „God save the King“. Zsp 8, Jörg Koch Hoffmann von Fallersleben hat sehr bedauert, dass sein Lied 1871 nicht zur Nationalhymne wurde. Da ist er enttäuscht, tatsächlich sehr enttäuscht, er meinte, jetzt sei doch die Stunde gekommen, dass das „Lied der Deutschen“ für alle Deutschen Nationalhymne werde. Das hat sich nicht erfüllt. Er hat den Erfolg, den großen Erfolg seines Liedes nicht mehr erlebt. Erzählerin Hoffmanns Lied auf Haydns Melodie hat für eine Nationalhymne gleich mehrere Makel: musikalisch betrachtet, ist es alles andere als schneidig-stramm. Sein Text ist zudem nicht kriegerisch, stachelt nicht zum Opfertod an. Und: das Lied besingt keinen Regenten. Dennoch gerät es während des Kaiserreiches immer stärker in den Bann des Militärischen. Bei der Einweihung von Kriegerdenkmälern und an sogenannten Heldengedenktagen ist es schon bald nicht mehr wegzudenken. „Deutschland, Deutschland über alles“ bekommt nun einen anderen Klang als noch zu Hoffmanns Zeiten. Zsp 10 Jörg Koch Jetzt schon beginnt lange nach Hoffmanns Tod 1874 die Vereinnahmung des Liedes, insbesondere der ersten Strophe, ja jetzt mit einer ganzen anderen Intention: Deutschland, Deutschland siegt über andere Länder! Erzählerin Eine kriegerische Aura erhält das Lied dann endgültig im Ersten Weltkrieg, in dem es mit dem sogenannten Langemarck-Mythos verknüpft wird. In einem offiziellen Bericht der Obersten Heeresleitung zu den Kämpfen in Flandern im November 1914 heißt es: Zitator Westlich Langemarck brachen junge Regimenter unter dem Gesange ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen vor und nahmen sie ein. Etwa 2000 Mann französischer Linieninfanterie wurden gefangengenommen und sechs Maschinengewehre erbeutet. Erzählerin Was der Langemarck-Mythos verschweigt: die Schlachten in Belgien 1914 und 1915 sind für das deutsche Heer ein Fiasko. Was bleibt, ist der Mythos vom opferbereiten Kampf, der sich fortan mit dem Deutschlandlied verbindet und später im Nationalsozialismus wieder auflebt. Das Lied gilt nach dem Krieg als belastet, erlebt aber dennoch in den ersten Jahren der Weimarer Republik eine Renaissance. Zsp 11 Jörg Koch Schon 1920 beginnen erste Überlegungen einer Nationalhymne. Ganz klar, Ende 1918, Ende der Monarchie, da hatte man an nationale Symbole natürlich nicht gedacht. Dann kommt aber tatsächlich schon bald die Frage aus dem Ausland, aus England. Welche Hymne habt ihr denn? Denn Hymnen, das sieht man daran, waren notwendig bei Staatsbesuchen, etwa. Da hat sich bis heute nichts geändert. Erzählerin Die Regierung lässt das Deutschlandlied 1920 prüfen, ob es als Hymne eines demokratischen Deutschland in Frage kommt. In einer Kabinettsvorlage sammelt sie Argumente pro und contra. Am 11. August 1922 schließlich wird der Verfassungstag gefeiert, eine Art inoffizieller Nationalfeiertag der Weimarer Republik. Er wird unter das Motto gestellt: „Einigkeit und Recht und Freiheit.“ Gastgeber ist Reichspräsident Friedrich Ebert. Zsp 12 Jörg Koch Auf Drängen seiner Umgebung, verschiedener politischer Richtungen, proklamiert Ebert dann, ausgerechnet ein SPD-Politiker, die drei Strophen zur Nationalhymne, weil ihm dieser Dreiklang „Einigkeit und Recht und Freiheit“ so wichtig ist. Er will Versöhnung schaffen zwischen den Konservativen und den Linken ... Erzählerin Schon in der Weimarer Republik erkannte man also – wie später in der Bundesrepublik – einen Gegensatz zwischen der ersten und der dritten Strophe: „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt“, das klang nach dem verlorenen Weltkrieg nach nationalistischer Anmaßung. Dennoch hielt der SPD-Politiker Friedrich Ebert formell an allen drei Strophen fest. Warum? Zsp 13 Jörg Koch Denn die Zeiten sind natürlich zwei Jahre nach Erlass das Versailler Vertrags sehr unsicher. Es kommt zu politischen Morden, die Weimarer Republik ist politisch und wirtschaftlich sehr instabil, und jetzt soll ein Lied zumindest eine gewisse Einheit parteiübergreifend schaffen. Das war seine Absicht. Erzählerin In der offiziellen Praxis scheint sich der Akzent während dieser Jahre auf die dritte Strophe zu verschieben. Ausschließlich sie wird gesungen auf dem Verfassungstag 1922, ebenso in den Jahren darauf bei den Trauerfeiern für Präsident Ebert und Außenminister Stresemann: „Einigkeit und Recht und Freiheit“ wird mehr und mehr zum Motto der Weimarer Republik. Ein Prozess, der 1933 abrupt endet: Erzählerin Am 30. Januar wird Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Am selben Abend ziehen SA-Kolonnen durch Berlin. Sie singen die erste Strophe des Deutschlandliedes, anschließend das Marsch- und Kampflied von Horst Wessel. Horst Wessel, ein junger SA-Führer, war 1930 von einem KPD-Mitglied in Berlin erschossen worden und galt als ein Märtyrer der nationalsozialistischen Bewegung: „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen“, so sein Text. Deutschlandlied und Wessel-Lied werden zu Siegeshymnen des Nationalsozialismus. Bis 1945 erklingen sie bei allen offiziellen Anlässen, bei Parteitagen, Gedenkfeiern, Amtseinführungen, beim Stapellauf von Schiffen, bei der Einweihung von Konzentrationslagern. Die Reihenfolge ist festgelegt: Zsp 14 Jörg Koch Erst mal „Deutschland, Deutschland über alles“, ... jetzt natürlich mit dem Anspruch: Hitler-Deutschland regiert über die Welt ... Und dann ertönt im Marschrhythmus ja was völlig anderes. Ein Riesengegensatz, dieses SA Kampflied „Die Fahne hoch“, das sogenannte Horst-Wessel-Lied, wobei die erste und vierte Strophe identisch sind. Beim Absingen gerade dieser Strophen musste auch der Hitlergruß gezeigt werden. Erzählerin So der Historiker Jörg Koch. Auch wenn in NS-Lieder- und Schulbüchern das Deutschlandlied in der Regel dreistrophig abgedruckt wird, scheinen die nationalsozialistischen Politiker und Verbände in der Praxis nur an der ersten Strophe interessiert zu sein: „Deutschland, Deutschland über alles“, das war in ihrem Sinne; „Einigkeit und Recht und Freiheit“ weniger. Allerdings gibt es Aufnahmen von NS-Chören aus den ersten Jahren der Diktatur, auf denen alle drei Strophen des Liedes zu hören sind, ebenso auf Schallplatten, die für den internationalen Markt produziert werden. Vollkommen „unschuldig“ mag also die dritte Strophe des Deutschlandliedes, unsere heutige Nationalhymne, nicht sein. Allerdings scheint sie in der Zeit des „Dritten Reiches“ und auch in den ersten Jahren nach dem Krieg weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein, so dass Politiker der jungen Bundesrepublik, die sie bei Wahlkampfveranstaltungen singen lassen wollen, ihren Text vorsichtshalber auf ausgelegte Blätter drucken lassen. Die Marginalisierung während der Nazijahre verschafft der dritten Strophe um 1950 jedenfalls eine neue, letzte Chance als Nationalhymne. Zsp 15 Jörg Koch Als der Bundestag sich zunächst traf zur konstituierenden Sitzung oder auch als der Bundespräsident gewählt wurde, das sind ja auch wie heute Anlässe mit feierlicher Musik... man wich auf Werke von Beethoven vor allem aus. Aber Beethoven und sportliche Ereignisse, das passt auch nicht. Und da wurden vielfach im Rheinland Karnevalsschlager gespielt und gesungen. Und der Überlieferung nach soll 1952 Adenauer in Chicago mit „Heidewitzka Herr Kapitän“ begrüßt worden sein. „Heidewitzka“ Erzählerin Bundeskanzler Konrad Adenauer, der ein Gespür für die Stimmung in der Bevölkerung hat, lässt eine Umfrage in Auftrag geben, um herauszufinden, wie die Westdeutschen in der Hymnenfrage denken. Das Ergebnis ist eindeutig: 73 Prozent wollen das Deutschlandlied, auch unter SPD-Anhängern stimmen zwei Drittel dafür. Zsp 16 Clemens Escher Ja, es war für die Menschen ein Bedürfnis, eine Hymne zu haben. Erzählerin Sagt der Historiker Clemens Escher, der ein Buch über die Hymnenfrage in den ersten Jahren der Bundesrepublik geschrieben hat. Zsp 16 Forts. Clemens Escher Es gab ja viele Radioübertragung ... Und es gab dann - nach Sportveranstaltungen etwa - eben nicht den feierlichen Abschluss. Und in dieses hymnenlose Zeitfenster haben dann die Bundesbürger selbst an Adenauer und Heuss Hymnenvorschläge geschrieben. Keiner von diesen Vorschlägen hatte schließlich eine Chance, genommen zu werden, und in einem doch sehr langen, schmerzhaften Prozess – wurde dann schließlich, wie es Heuss formulierte, aus Traditionalismus und Beharrungsverlangen der Bundesdeutschen in einem Briefwechsel zwischen Adenauer und Heuss die dritte Strophe festgelegt als Nationalhymne, ohne dass diese im Grundgesetz etwa ist. Erzählerin So Escher 2022 in der Bayern2-Radiowelt im Gespräch mit Moderator Rolf Büllmann. Im Mai 1952 ist es dann so weit: das Deutschlandlied wird wieder zur Nationalhymne erklärt. Gesungen werden soll bei offiziellen Anlässen aber ausschließlich die dritte Strophe. Dabei bleibt es bis 1991. Als Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Kanzler Helmut Kohl 1991 „Einigkeit und Recht und Freiheit“ zur Hymne des wiedervereinigten Deutschland erklären, sind die beiden anderen Strophen des Deutschlandliedes Geschichte. Das gilt auch für die Hymne der DDR, der der Historiker Jörg Koch durchaus etwas abgewinnen kann. Zsp 18 Jörg Koch Lothar de Maiziere etwa, der letzte Ministerpräsident der DDR, hatte vorgeschlagen, die erste Strophe der DDR-Hymne, ... „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“, zu kombinieren mit der dritten Strophe des Deutschlandliedes. Es ist schade. Also ich finde inhaltlich und was die Melodie anbelangt, die Hymne der DDR auch erhaltenswert ... Inhaltlich, lässt sich gut singen, natürlich auch auf die Melodie von Haydn. Erzählerin Hätte man also 1990 nicht die Chance nutzen und eine neue gemeinsame Hymne für das vereinigte Deutschland schaffen sollen? Clemens Escher: Zsp 19 Clemens Escher, Archiv: Diese Diskussion gab es, es war aber schon damals eigentlich eine Diskussion, die vor allem im Feuilleton geführt worden ist. Also eine, wenn man so will, intellektuelle Wolkenschieberei. Wolf Biermann machte sich damals stark für die Kinderhymne von Bertolt Brecht, andere taten es ihm gleich. Also, es gab diese Diskussion, aber es war nicht wirklich eine Massenbewegung. Insofern gab es diese Bewegung von unten für eine neue Hymne nicht. Und „Einigkeit und Recht und Freiheit“ sind ja auch Begriffe, unter denen man sich sehr gut nach 1990 versammeln konnte.…
Verlangsamte Bewegungen, starrer Gesichtsausdruck, Zittern: Parkinson ist eine Erkrankung des zentralen Nervensystems. Dabei sterben spezielle Zellen im Gehirn ab. Medikamente können die Symptome lindern, heilbar ist die Krankheit nicht. Von Claudia Steiner (BR 2022) Credits Autorin dieser Folge: Claudia Steiner Regie: Frank Halbach Es sprachen: Hemma Michel Technik: Roland Böhm Redaktion: Matthias Eggert Das Manuskript zur Folge gibt es HIER . Interviewpartner/innen: Günter Höglinger (Professor, Direktor der Klinik für Neurologie an der Medizinischen Hochschule Hannover); Thomas Köglsperger (Dr., Privatdozent, Leiter der Ambulanz für Tiefe Hirnstimulation an der Neurologischen Klinik Großhadern München); Luisa Bußmann (Logopädin im Klinikum Großhadern München); Gerhard Schumann (Deutsche Parkinson Vereinigung Regionalgruppe München) Diese hörenswerte Folge von radioWissen könnte Sie auch interessieren: Das Gehirn - Schaltzentrale des Körpers JETZT ANHÖREN Linktipps: Ein interessanter und umfassender Beitrag zum Thema: tagesschau.de | Nervenerkrankung - Was hilft bei Parkinson? JETZT LESEN Deutsche Parkinson Vereinigung e.V. Selbsthilfevereinigung mit 19 000 Mitgliedern und gut 450 Regionalgruppen. Mehr Infos unter: EXTERNER LINK | https://www.parkinson-vereinigung.de/ Deutsche Gesellschaft für Parkinson und Bewegungsstörungen In der Fachgesellschaft sind Ärzte und Grundlagenforscher organisiert. Mehr Infos unter: EXTERNER LINK | https://parkinson-gesellschaft.de Literaturtipps: „Parkinson: Über 200 Experten-Antworten zu den wichtigsten Fragen“, Reiner Thümler und Björn Thümler, Trias „Parkinson-Syndrome kompakt: Diagnostik und Therapie in Klinik und Praxis“, Günter u. Höglinger, Thieme…
Wer und wie bin ich? Das eigene Selbstbild wird durch Erfahrungen geprägt. Eingeübte Denk- und Handlungsmuster verstärken sich wechselseitig. ?So bin ich eben!? Unser Selbstbild begrenzt uns und es gibt gleichzeitig Halt. Aber es kann sich durch neue Interaktionen, andere Erlebnisse und Therapie auch verändern. Von Justina Schreiber (BR 2024) Credits: Autorin dieser Folge: Justina Schreiber Regie: Martin Trauner Es sprach: Susanne Schroeder Technik: Monika Gsaenger Redaktion: Susanne Poelchau Im Interview: Dr. Johannes Heßler-Kaufmann, Psychologe und Psychotherapeut Dr. Cécile Loetz, Psychoanalytikerin und Podcasterin Dr. Daniela Renger, Sozialpsychologin Podcasttipp: "Moby Dick oder Der Wal" Hörspiel Adventure-Cut von Herman Melville JETZT ANHÖREN Literaturtipps: Cecile Loetz und Jakob Müller, "Mein größtes Rätsel bin ich selbst", entlang lebensnaher Geschichten erklärt das Autorenpaar den Prozess der Psychoanalyse. Daniela Renger und Sophus Renger: "Die Suche nach Selbstrespekt: Wie Anerkennung unser Selbstbild formt". Informatives, aber eher abstraktes Buch über Rengers sozialpsychologisches Modell des Selbstbilds mit Schwerpunkt auf Selbstanerkennung. Diese hörenswerten Folge von radioWissen könnten Sie auch interessieren: Gene oder Gelerntes - Was bestimmt unsere Persönlichkeit? JETZT ANHÖREN Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört. ZUM PODCAST ARD alpha Sein Leben ändern - Wie ihr einen Neuanfang wagt und meistert JETZT ENTDECKEN People Pleaser: Stoppt eure Harmoniesucht JETZT ENTDECKEN Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER .…
Der Untergang der Titanic ist "Kult". Kitschige Schneekugeln mit dem untergehenden Schiff, Titanic-Tassen und sogar buchbare Tauchexpeditionen zum versunkenen Wrack haben als Resultat eines modernen Mythos in den Hintergrund gedrängt, dass hier über 1.500 Menschen starben. Von Frank Halbach (BR 2023) Credits Autor dieser Folge: Frank Halbach Regie: Frank Halbach Es sprachen: Laura Maire, Stefan Wilkening, Sven Hussock Technik: Monika Gsaenger Redaktion: Susanne Poelchau Im Interview: Prof. Dr. Linda Maria Koldau, Kulturhistorikerin, Autorin von „Titanic. Das Schiff, der Untergang, die Legenden“, München 2012. Das Manuskript zur Folge gibt es HIER . Diese hörenswerten Folgen von radioWissen könnten Sie auch interessieren: Seenotrettung - Einsatz in höchster Gefahr JETZT ANHÖREN Seekrankheit - Qual bei Seegang JETZT ANHÖREN Literaturtipps: Robert D. Ballard, Michael S. Sweeney: Return to Titanic. Washington DC 2004. Linda Maria Koldau: Titanic – Das Schiff – Der Untergang – Die Legenden. München 2012. Walter Lord: Die Titanic-Katastrophe. München 2002. Wolf Schneider: Mythos Titanic. Hamburg 1987. Und noch ein besonderer Tip der Redaktion: Vom 14. März 2025 bis 6. Januar 2026 sehen Sie im Lokschuppen Rosenheim die Ausstellung Titanic - Ihre Zeit. Ihr Schicksal. Ihr Mythos mit Originalartefakten, einer immversiven Multimedia-Installation und dramatischen Passagiergeschichten, die den Untergang des berühmten Schiffes lebendig werden lassen. HIER geht es zur Website Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN…
Sattgrün, makellos und weich - der perfekte Rasen ist eine Wissenschaft für sich und sogar Studienfach! Seine Zukunft ist jedoch prekär: Wilde Wiesen mit Klee, Kräuterblumen und Moos sind für die Folgen der Klimakrise besser gewappnet. Von Kirsten Zesewitz Credits Autorin dieser Folge: Kirsten Zesewitz Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Julia Fischer, Benjamin Stedler Technik: Simon Lobenhofer Redaktion: Iska Schreglmann Im Interview: Prof. Norbert Kühn, Leiter des Fachgebietes Vegetationstechnik und Pflanzenverwendung an der Technischen Universität Berlin; Prof. Iris Lauterbach, Zentralinstitut für Kunstgeschichte München; Steven Wagner, Greenkeeper Golfclub Hauptmoorwald Bamberg e.V. 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Website Literatur: Gothein, Marie Luise: Geschichte der Gartenkunst Hennebo, Dieter: Geschichte der deutschen Gartenkunst Uerscheln, Gabriele: Kleines Wörterbuch der europäischen Gartenkunst Grzimek, Günther: Die Besitzergreifung des Rasens (zum Thema Rasen im Olympiapark in München) Noll, Thomas: Albrecht Altdorfer in seiner Zeit (zum Thema Rasenbänke in der Kunst des Mittelalters) Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER . Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: SPRECHERIN Stellen wir uns ein Kind vor, das im Garten spielt. Einen Fußballer, der im Stadion den Fußball kickt. Eine Golferin, die elegant zum entscheidenden Schlag ausholt. Und vielleicht noch einen Mann, der in seinem Vorgarten einen Rasenmäher vor sich herschiebt. All das passiert auf einem Rasen. Wikipedia schreibt dazu: ZITATOR „Rasen bezeichnet eine anthropogene Vegetationsdecke aus Gräsern, die durch Wurzeln und Ausläufer mit dem Boden verbunden ist, im Siedlungsgebiet der Menschen liegt und nicht landwirtschaftlich genutzt wird.“ SPRECHERIN Für die einen ist er heilig – wie der Tennisrasen von Wimbledon – für andere ein Statussymbol. Musik Fantasie für Cembalo C-Dur 0‘26 Nirgendwo auf der Welt aber erreicht der Rasen jene Schönheit und frische grüne Farbe wie in England, wo er seinen Ursprung nahm. OT 1 Iris Lauterbach England war schon im 17. Jahrhundert dafür berühmt, muss man sagen, dass dort der perfekte Rasen gedieh. Das lag natürlich am feuchten Klima und dann auch an bestimmten Pflegemaßnahmen, die man in England offenbar bereits seit dem 17. Jahrhundert ergriffen hat, um den die Rasenfläche auch so schön zu erhalten. SPRECHERIN Prof. Iris Lauterbach. Sie forscht am Münchner Zentralinstitut für Kunstgeschichte zur Entwicklung der Gartenkunst in Europa. Und die Gartenkunst sei ohne den Rasen gar nicht vorstellbar, sagt Lauterbach... Die Farbe Grün spiele dabei eine entscheidende Rolle: Die Schönheit des frischen grünen englischen Rasens habe zeitgenössische Besucher aus Deutschland und Frankreich nachhaltig beeindruckt: OT 2 Iris Lauterbach Dass diese grünen Flächen so bedeutend waren und als schön empfunden wurden damals, hat man auch wirklich schon formuliert! Es heißt explizit: die Farbe Grün ist entspannend für das Auge und deswegen wirkt das so angenehm und natürlich. In Barockgärten, in Frankreich und Deutschland hat man dann versucht, das zu imitieren, und hat schnell angefangen, seit dem frühen 18. Jahrhundert solche Rasenflächen auch aufzunehmen. Die hießen dann immer „auf englische Art“ und dienten dazu, auch in Barockgärten eine solche natürliche Note einzubringen. Musik: What is it 0‘22 SPRECHERIN Aber was genau macht die Faszination des Rasens aus? Dazu muss man zunächst einmal festhalten: Rasen ist nicht Wiese: Ein Rasen dient ästhetischen Zwecken, man kann auf der weichen, ebenmäßigen Grasfläche hervorragend Ballspielen, picknicken oder sich sonnen. Sie ist aber – landwirtschaftlich betrachtet – eine unproduktive Fläche; ein Stück grünes Land, das der Lebensmittelherstellung entzogen wurde. Im Gegensatz zur Wiese, sagt der Pflanzenökologe Prof. Norbert Kühn von der Technischen Universität Berlin. OT 3 Norbert Kühn Ursprünglich sind Wiesen mal dazu da, um Futter zu erzeugen, das heißt, in einer Wiese ist alles Mögliche drin und wenn ich eine Wiese 20-mal schneide, dann wird alles herausselektiert, was hoch und groß wächst. Und es bleibt im Grunde genommen nur das niedrige übrig, was diesen Schnitt übersteht. Und wenn ich davon wieder die Kräuter wegnehme, dann komme ich zu niedrigen Gräsern. Und aus diesen niedrigen Gräsern besteht üblicherweise der Rasen. SPRECHERIN Rasen ist also das, was übrigbleibt. Eine Monokultur, die entsteht, wenn man all die Vielfalt der Blumen und Kräuter runter mäht und raus spachtelt. Musik: First steps 0‘29 Aber: Diese Monokultur ist perfekt. Sie ist unglaublich dicht und weich und sanft – und fühlt sich einfach gut an. Norbert Kühn hockt auf einer Rasen-Versuchsfläche der Technischen Universität in Berlin Dahlem und streicht mit den Fingern über den grünen Golfrasenteppich. OT 4 Norbert Kühn Das ist schon auch etwas Besonderes. Und der hat eine ganz andere Textur wie das, was man normalerweise hat, wenn man seinen eigenen Rasen im Einfamilienhaus- Bereich hat, der ist wesentlich höher. Hier ist es wirklich, als ob man über einen Teppich drüber geht. SPRECHERIN Auftragsforschung nennt Norbert Kühn das, was die Technische Universität Berlin hier macht. Sie untersucht die Qualität von Rasensorten. Denn es gibt nicht „den“ „einen“ Rasen. Die Bandbreite geht vom gewöhnlichen Gebrauchsrasen für den Hausgarten über zarte, nur zum Anschauen gedachte Zierrasen bis hin zu hoch spezialisierten Sportrasen: wie dem für Golf. Und für jede dieser Anwendungen gibt es eine standardisierte Samenmischung: die so genannte „Regel-Saatgut-Mischung“. OT 5 Norbert Kühn Und wenn man eben entsprechend eine solche „Regel-Saatgutmischung“ kauft, dann will ich davon ausgehen, dass diese Mischung auch funktioniert für den Zweck, den ich haben will. Und da kommen eben die entsprechenden, vorher geprüften Sorten rein und die müssen eben so gut sein, dass sie dieser Regel-Saatgut-Mischung dann auch genügen. SPRECHERIN Die meisten Saatgutmischungen bestehen vom Grundsatz her aus: Deutschem Weidelgras, Wiesenrispe und Rotschwingel. Sie sind sowas wie die Standardgräser im deutschen Rasen. Atmo: Rasenmäher SPRECHERIN Auf dem Versuchsgelände in Berlin Dahlem kümmern sich zwei Universitätsgärtner um die wissenschaftlichen Rasenflächen: Sie mähen und walzen den Rasen, malträtieren ihn – wie im Falle des Fußballrasens mit einer speziellen „Scherstollenwalze“ – und am Ende der Testzeit gibt Professor Kühn eine Auswertung seiner Untersuchungen an das Bundessortenamt. Musik: Eco statistics red 0‘20 SPRECHERIN In Sachen Fußballrasen ist Norbert Kühn im Laufe der Jahre zu so etwas wie einem wissenschaftlichen Experten für das Berliner Olympiastadion geworden. Der Professor muss schmunzeln bei der Frage, was denn nun das Geheimnis des „perfekten“ Fußballrasens sei. OT 6 Norbert Kühn Also, das Geheimnis ist natürlich, dass er sich strapazieren lässt, dass er gleichmäßig aussieht und dass er auch mit den relativ schlechten Belichtungs-Verhältnissen in den Stadien gut zurechtkommt. Der muss während des Spiels topfit sein und nach dem Spiel ganz schnell sich wieder in eine gute Form bringen lassen. Ein Fußballrasen ist schon ziemlich eine hohe Kunst. Dafür gibt es dann extra Greenkeeper, um eben diese Rasen auch entsprechend herzustellen. SPRECHERIN Wenn der Fußballrasen die hohe Kunst ist, dann ist der Golfrasen wohl die Königsdisziplin. OT 7 Steven Wagner Ist es auf alle Fälle. Ich habe ja 20 Jahre als Gärtner gearbeitet und dachte, ich kenne mich mit Rasen recht gut aus, hab dann meine Meisterausbildung zum Greenkeeper gemacht und habe gemerkt, da steckt doch einiges mehr dahinter als einfach nur Rollrasen zu verlegen oder Rasen zu mähen. Musik: Good reasons 1‘11 SPRECHERIN Steven Wagner betreut den Golfplatz im Bamberger Hauptsmoorwald. Ein kleiner 9-Loch Platz, gut 13 Hektar hat Wagner zu mähen – nicht viel im Vergleich zu großen Golfplätzen. Trotzdem sitzt der Mittfünfziger mit dem kahl geschorenen Kopf im Sommer jeden Tag mehrere Stunden auf dem Ansitzmäher. Es gibt einiges zu mähen: Der äußere Rasen des Golfplatzes, das so genannte „Rough“, ist zwischen 3 und 7 Zentimeter hoch. Das „Fairway“, also die großen Rasenflächen, auf denen die Golfer den Ball weiter schlagen, wird auf 1,6 bis 2 Zentimeter Höhe geschnitten – und das „Vorgrün“ in Sichtweite des Loches auf 1 Zentimeter. Spannend wird es dann am „Grün“ oder Englisch „Green“: Hier, wo der Golfball ins Loch geputtet wird, darf das Gras gerade einmal 4 Millimeter (!) aus dem Erdboden herausschauen. Und hier liegt die Kunst. OT 8 Steven Wagner Wir bewegen uns im Millimeterbereich, das heißt, wenn dort einfach mal Wasser oder Nährstoffe fehlen oder eine Krankheit kommt, das muss man sehr früh erkennen. Und deswegen braucht man ein geschultes Auge und auch ein Gefühl für die Natur. ATMO Golf Und beim Golf ist ja gewünscht – ich spiele selber Golf, deswegen weiß ich’s – dass der Ball auf dem Grün wie auf einem Spiegel läuft, ohne zu hoppeln. Ganz ruhig und sehr spurtreu. Spurtreu heißt bei uns, so ein Grün ist natürlich nicht immer eben. Es hat Ondulierungen, also Berge und Täler, nach links und rechts geneigt, und das sollte dieser Ball annehmen. SPRECHERIN Im Klartext: Wenn sich der Boden nach links neigt, soll der Ball auch nach links rollen. Tut er das nicht, ist der Greenkeeper „schuld“. Auch deshalb muss Wagner stets ein waches Auge auf seinen Rasenteppich haben und ihn hegen und pflegen: Vertikutieren und Aerifizieren, damit Luft an die Wurzeln kommt. Wässern und Düngen zur Nährstoffversorgung. Mähen und Walzen für das perfekte Erscheinungsbild. Das Schlimmste, was einem Greenkeeper passieren kann, ist ein filziger Rasen. Es schüttelt ihn fast bei dem Gedanken: OT 9 Steven Wagner Wenn wir mähen und düngen, sterben Pflanzenteile ab, die Bodenlebewesen schaffen das nicht, das so schnell wegzuarbeiten und es entsteht eine hydrophobe, nicht homogene Schicht, sagen wir mal. Das nennt man Rasenfilz. Da kommt dann weniger Wasser durch und die ist ja fest und die versuchen wir zu durchbrechen und aufzulockern, dass wir einen gesunden Rasen und gesunde Wurzeln haben. Musik: Green aspects red 0‘21 SPRECHERIN Steven Wagner kann sich richtig hineinversetzen, in die zarten Wurzeln, die all das stemmen müssen: Eine Graspflanze müsse man sich vorstellen wie einen Baum, sagt er: Mit einer weit verzweigten Wurzel, einem kurzen Stamm und vielen Blättern, das sind die Halme. Weil die aber so kurz sind und wenig Photosynthese betreiben, muss die Energie aus der Wurzel kommen. Sie ist das Geheimnis eines makellosen Golfrasens, sagt Wagner. OT 10 Steven Wagner Man muss wirklich das von Herzen lieben und mit der Natur eins werden, um es um zu verstehen, was da im Boden passiert, von der Wurzel, die Nährstoffe, die Mikroorganismen, die Luft, was da alles stimmen muss. Deswegen muss man da ein gutes Gleichgewicht finden, nicht zu viel, nicht zu wenig Dünger, nicht zu viel, nicht zu wenig Wasser. Also, da spielen so viele Sachen zusammen… SPRECHERIN (Eben) Eine Kunst... Für viele Menschen auch eine Obsession, ein Statussymbol. Aber… wie kam es zu dieser menschlichen Faszination für das kurzgeschnittene Grün? OT 11 Iris Lauterbach Aus meiner Sicht ist die Gestaltung eines sterilen, perfekten Rasens ein Zeichen für mangelnde Naturnähe. Das kann man als Phänomen das 20. und 21. Jahrhunderts generell sagen, dass für viele Menschen die Natur immer weiter in die Ferne rückt. Natürlich kann ich mir vorstellen, wie so ein perfekter grüner Rasen ein Statussymbol ist, weil er die Illusion erweckt, man verfüge über ein großes Anwesen, habe Personal, das einen solchen Rasen pflegen kann. Musik: The ancient natural world 0‘34 SPRECHERIN Bereits in der Antike sind die Villen reicher Bürger von einer Art Rasen umgeben. Im Mittelalter werden Rasenflächen zum festen Bestandteil der Kloster- und Ziergärten. SPRECHERIN Obgleich sich die Anlage eines Rasens mit Hilfe von Grassoden, Walzen und Striegeln bis ins 19. Jahrhundert kaum veränderte, sahen die mittelalterlichen Rasenflächen etwas anders aus als das, was man heute unter einem „perfekten“ Rasen versteht, sagt Iris Lauterbach. OT 12 Iris Lauterbach Das Gras ist durchwachsen mit Kräutern, beispielsweise mit Raute, Salbei, Basilikum... Und im Rasen findet man auch einzelne Wiesenblümchen, also Veilchen, Gänseblümchen, Primeln, Akelei. Man muss sich vor Augen halten, dass gerade im Mittelalter es nicht so viele Orte gab, an denen Gärten angelegt werden konnten. In den Städten gab es dafür überhaupt keinen Platz. Und deswegen ist der Rasen in der Natur ein ganz wichtiges Thema. Wie viele Texte des Mittelalters sprechen vom Rasenbett? SPRECHERIN Das Rasenbett oder vielmehr: Die Rasenbank gewinnt auch in der Kunst des Mittelalters weitreichende Bedeutung: Maria mit dem Jesuskind auf einer Rasenbank sitzend, wird in der Zeit um 1500 zu einer eigenen Bildgattung. Künstler wie Albrecht Dürer und Martin Schongauer zeigen die Muttergottes in Ruhe und Abgeschiedenheit; die Blumen auf der Rasenbank symbolisieren Eigenschaften wie Reinheit, Frömmigkeit, Liebe und Demut. MUSIK: Greenwich Palace 0‘36 SPRECHERIN Während in den italienischen Gärten der Renaissance aufgrund des heißen, trockenen Klimas nur sehr wenig Rasen zu finden war, nahm die Rasenkultur in England im 16. Jahrhundert richtig Schwung auf. Und das hatte auch mit der englischen Begeisterung für den Sport zu tun. Frühformen des Tennis und des Crickets erfreuten sich großer Beliebtheit und allen voran: Rasen Bowling, eine Art Boule-Spiel. OT 13 Iris Lauterbach Man hat dann vertiefte Rasenflächen in den Gärten angelegt. Vertieft, damit die Kugeln dieses Spiels nicht wegrollen – finde ich auch sehr praktisch – und das hat man als Bowling Green bezeichnet. Diese Bezeichnung Bowling Green wurde dann auch ins Französische übersetzt, als Boulingrin, und das ist eine der ganz charakteristischen Methoden zur Bodenmodellierung von Barockgärten des frühen 18. Jahrhunderts. SPRECHERIN Da wiederum waren die Engländer längst dem Landschaftsgarten verfallen – der mit seinen ausgedehnten Wiesenflächen wieder mehr Blühaspekte und Natur in die Graslandschaft brachte. OT 14 Iris Lauterbach Man muss sich das so vorstellen, dass Landschaftsgärten ja in der damaligen Vorstellung Bilder der Natur waren, also Gemälde im Grunde, Landschaftsgemälde, die halt in der Natur ausgeführt wurden. SPRECHERIN Wiesen- und Rasenflächen dienten dazu, die Größe des Gartens zu betonen, sie wurden zu Landschaft. Das betraf auch die Pflege der Flächen. Denn: Bevor der Brite Edwin Beard Budding um 1830 den mechanischen Rasenmäher erfand und wenig später auch dampfbetriebene Mähmaschinen durch die englischen Parklandschaften tuckerten, wurden eben jene Wiesenflächen mit Schafen beweidet; die mit ihren Hinterlassenschaften tatsächlich alles andere als einen „perfekten englischen Rasen“ erzeugten. MUSIK: Close to nature 0‘24 SPRECHERIN Und heute? Viele Menschen würden sich genau das auch wieder wünschen: Die Rückkehr der Wiese, nicht nur in städtischen Parkanlagen, sondern auch in privaten Gärten. MUSIK nochmal hoch SPRECHERIN Denn: Nicht zuletzt wegen seiner intensiven Pflege und des enormen Wasserverbrauchs steht der Rasen – egal, ob auf Golfplätzen oder im kleinbürgerlichen Hausgarten – in der Kritik: Rasen gilt als die größte bewässerte Kultur außerhalb des Nahrungsmittelanbaus weltweit. In den USA macht die Bewässerung der Vorgärten drei Viertel (!) des privaten Wasserverbrauchs aus. Von Düngern und Pflanzenschutzmitteln ganz zu schweigen. Und: Rasen ist praktisch ohne Leben. OT 15 Norbert Kühn Was lebt auf einem Rasen? Unter einem Rasen leben zumindest Würmer. Das sieht man sehr schön, wenn die Häufchen dann nach oben kommen… Im Boden dann schon Collembolen und solche Dinge. Aber auf der Rasennarbe gibt es eigentlich so gut wie keine höheren Lebewesen. SPRECHERIN Noch einmal Norbert Kühn von der TU Berlin. Der Wissenschaftler hat vor 30 Jahren zur Renaturierung von Wiesen promoviert und forscht heute zur ökologischen Gestaltung der Stadtlandschaft. Das Thema ist hoch aktuell: Wie geht es weiter mit städtischen Parks und Grünanlagen? Wenn die Sommer immer heißer und trockener werden, lohnt es sich auch, über die „Renaturierung“ von Rasenflächen nachzudenken. Dafür braucht es einige Maßnahmen. Einen Rasen einfach sich selbst zu überlassen, sei nicht die Lösung, sagt Norbert Kühn. OT 16 Norbert Kühn Weil die Schwierigkeit ist, dass die Pflanzen eindringen müssen, also andere Pflanzen müssen eindringen. Das heißt, es muss erstmal ein Umgebungs-Potenzial da sein, und es müssen sich Lücken auftun, wo die sich dann etablieren. Das heißt, ich habe dann vielleicht zum paar zusätzliche Unkräuter drin, was ganz schön sein kann.. Aber so richtig artenreich bekomme ich ihn nicht. Wenn ich also wirklich will, dass ich einen bisschen artenreicheren Bestand habe, dann müsste ich den aufbrechen und auch was einsäen. Musik: New ideas 0’28 SPRECHERIN Samenmischungen für artenreiche Wiesen, idealerweise mit gebietstypischen, also an die jeweilige Region angepassten Blumen, Kräutern und Gräsern gibt es heute in jedem Gartenmarkt zu kaufen. Die könne man dann auch noch anreichern, rät der Pflanzenökologe, mit frühblühenden Zwiebelpflanzen. OT 17 Norbert Kühn Und selbst da, wo ich vielleicht Verbindungswege brauche, kann ich immer noch in eine Wiese Rasenwege reinmachen – also die Wiesen sind eigentlich die Alternative dazu. SPRECHERIN Aber… Da ist er wieder, der Wermutstropfen im Widerstreit von Wiese und Rasen: Eine Wiese funktioniert nur für wenig genutzte Grasflächen. Dort, wo getreten, gejoggt, gesprintet und gehüft wird, kommt die Wiese an ihre Grenzen. Und vielleicht versteht so mancher grummelnde Hobby-Kicker nun auch, warum das Fußballspielen im Münchner Englischen Garten von der Bayerischen Schlösserverwaltung nicht gern gesehen wird: Tatsächlich leiden die vom Gartenarchitekten Friedrich Ludwig Sckell ursprünglich als „artenreiche blühende Wiesen“ angelegten Grasflächen massiv unter den Torturen eines intensiven, regelmäßigen Fußballspiels. Das erträgt eben nur: ein gut gepflegter Rasen. OT 18 Norbert Kühn Für Fußball – oder für Sport allgemein – gibt’s keine Alternativen, weil der Sport einfach sehr hohe Beanspruchung des Rasens hat. Dazu brauche ich die entsprechenden Gräser, und ich muss auch die entsprechenden Pflegemaßnahmen: Ich muss düngen, ich muss wässern, ich muss aerifizieren, ich muss besanden… Was auch immer dort passiert, da brauche ich diese hohe Notwendigkeit der Pflege. Sonst schaffe ich das nicht bei Fußballrasen. Musik: Live better 0‘21 SPRECHERIN Vielleicht kann man es so zusammenfassen: Rasen, wo Rasen hingehört. Und… irgendwie besitzt er schon eine gewisse Faszination, so ein frischer, grüner, weicher Rasen. Der Pflanzenökologe Norbert Kühn zögert keine Sekunde bei diesem Gedanken: OT 19 Norbert Kühn Rasen hat natürlich eine Faszination, weil es eben die extremste Form einer Nutzung ist. Und das kennen wir in der Natur ja auch: Wenn extreme Standortverhältnisse da sind, dann entsteht eine artenarme Pflanzengemeinschaft, weil nur wenige Pflanzen so hoch spezialisiert sind, um dort zu überleben. Also, im Grunde genommen kann man das wunderbar in so eine ökologische Theorie einbeziehen, zu sagen: Ein Fußballrasen ist ein extrem gestörter Rasen, extrem beanspruchter Rasen, und deshalb wächst da nur sehr wenig. Und das sind eben den Spezialisten. SPRECHERIN Steven Wagner hat seine Leidenschaft für den grünen Teppich zum Beruf gemacht. Kein Tag im Leben des Greenkeepers, an dem ihn sein Rasen langweilt: OT 20 Wagner Es ist auf alle Fälle eine Faszination, sich mit diesen verschiedenen Gräsersorten auseinanderzusetzen, mit der Ernährung der Pflanzen, mit den Krankheiten, das ganze insgesamt. Und natürlich bewege ich mich liebend gerne in der Natur. Ja, für mich gibt es nichts Schöneres. SPRECHERIN Und die Kunsthistorikerin? Privat findet Iris Lauterbach einen makellosen Rasen abwegig und unnatürlich. Beruflich aber kann sie sich der Faszination für das Phänomen Rasen auch nicht entziehen: OT 21 Iris Lauterbach Der Rasen ist extrem wichtig für die Geschichte der Gartenkunst, weil er wirklich ein ganz prägendes, gestaltendes Element ist. Nicht nur im Landschaftsgarten, sondern bereits im Barockgarten, aber auch in den großen öffentlichen Volksparks des 19. Jahrhunderts. Da ist der Rasen, durch den die schönen Wege für die Bevölkerung der Stadt verlaufen, ein ganz wichtiges Gestaltungselement. Ohne Rasen gäbe es gar keine Geschichte der Gartenkunst. Musik: All good 0‘24 SPRECHERIN Und plötzlich leuchtet die zarte, grüne Rasenfläche in Nachbars Garten in ganz anderem Licht… Wobei, hier wäre eine blühende Wiese eigentlich so viel schöner.…
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Rassismus ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig. Beim Thema Gesundheit kann er im schlimmsten Fall lebensgefährlich sein. Vorurteile aufgrund von Herkunft oder Hautfarbe und eine Ausrichtung der medizinischen Forschung am weißen, männlichen Körper führen zu Benachteiligung und ungenauen oder falschen Diagnosen. Von Lena Sauerer Credits Autorin dieser Folge: Lena Sauerer Regie: Kirsten Böttcher Es sprachen: Xenia Tiling, Friedrich Schloffer, Julia Cortis Technik: Redaktion: Yvonne Maier Im Interview: Janice Owen-Aghedo, Betroffene Cihan Sinanoğlu, DeZIM-Institut Ephsona Shencoru, Dermatologin Theda Borde, Empowerment für Diversität Diese hörenswerten Folgen von Radiowissen könnten Sie auch interessieren: Frauen leiden anders - Männer auch JETZT ENTDECKEN Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Ein Podcast-Tipp für alle, die gerne authentische Geschichten hören: „Ein Zimmer für uns allein“ – zwei Frauen, zwei Generationen und die Frage „Wie hast du das erlebt?“ Hier trifft Paula Lochte immer zwei Frauen aus verschiedenen Generationen und sie sprechen offen und ehrlich über ein Thema, das sie verbindet. Was waren die Kämpfe damals, was sind sie heute? „Ein Zimmer für uns allein“ findet ihr in der ARD-Audiothek und überall, wo’s Podcasts gibt – oder gleich HIER Linktipps: Projekt "Empowerment für Diversität" HIER geht es zur Website NaDiRa-Bericht zum Thema Gesundheit - HIER geht es zur Website Instagram-Kanal von Dermatologin Ephsona Shencoru HIER Auszüge folgender Studien: Sex bias in pan management decisions HIER geht es zur Website Gender disparity in analgesic treatment of emergency department patients with acute abdominal pain HIER geht es zur Website “Brave Men” and “Emotional Women”: A Theory-Guided Literature Review on Gender Bias in Health Care and Gendered Norms towards Patients with Chronic Pain HIER geht es zur Website Racial bias in pain assessment and treatment recommendations, and false beliefs about biological differences between blacks and whites HIER geht es zur Website Comparison of stage at diagnosis of melanoma among Hispanic, black, and white patients in Miami-Dade County, Florida HIER geht es zur Website Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de . Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER . Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: ZSP_1 O-TON JANICE - Methoden Meine Endometriose war oder ist sehr, sehr schlimm ausgeprägt gewesen. Ich habe alle möglichen Formen von Methoden versucht, um irgendwie besser durch den Alltag zu kommen. SPRECHERIN Janice Owen-Aghedo hat Endometriose, eine Krankheit, bei der Gewebe, das der Gebärmutterschleimhaut ähnelt, außerhalb der Gebärmutter wächst. Viele Betroffene haben chronische Schmerzen und müssen versuchen, so gut es geht, damit zu leben. Auch Janice Owen-Aghedo. Vor gut fünf Jahren recherchiert sie nach Methoden, um ihre Schmerzen erträglicher zu machen und vereinbart danach einen Termin bei ihrem Gynäkologen … ZSP_2 O-TON JANICE - Yoni … und habe dann auch meinem Arzt erzählt, dass in, ich sage mal, eher in der nicht westlichen Medizin auch eine Form von Yoni-Steaming, nenne ich das mal, gilt, um Schmerzen zu lindern, um Krämpfe zu lindern. SPRECHERIN Yoni-Steaming, ein Dampfsitzbad, dessen Wirkung zwar nicht wissenschaftlich belegt ist, aber den Unterleib entspannen soll. ZSP_3 O-TON JANICE - Buschmedizin … und er hat mir dann gesagt, von welcher Buschmedizin ich jetzt hier reden würde, und, ja. SPRECHERIN „Buschmedizin“. Ein Begriff, der Janice Owen-Aghedo weh tut. Sie fühlt sich als Schwarze Frau von ihrem Arzt einkategorisiert und rassistisch angegriffen. So und so ähnlich geht es ihr bei einigen Arztbesuchen, erinnert sie sich. ZSP_4 O-TON JANICE - dramatisch Ich wurde sowieso auch mit meinen Symptomen nie ernst genommen und ich sage mal, wenn ich dann noch irgendwie mit, ja als schwarze Frau in eine Praxis gekommen bin, wurden sehr oft so Sachen gesagt wie, ja ihr, ihr seid immer so dramatisch. SPRECHERIN Ihr, die Anderen. Aussagen, die Janice Owen-Aghedo abgrenzen, weil sie Schwarz ist. Als Frau hat sie es im Gesundheitssystem ohnehin schwerer, ernst genommen zu werden: Studien aus den USA und Israel zeigen zum Beispiel, dass Frauen seltener und weniger starke Schmerzmittel bekommen als Männer und länger auf die Behandlung warten müssen. Forschende aus Schweden fassen in einer Übersichtsstudie zusammen, dass chronische Schmerzen von Frauen eher als psychisch abgetan werden. ZSP_5 O-TON JANICE – von allen Seiten Man geht als Frau dahin, dann geht man als schwarze Frau dahin, dann hat man vielleicht noch eine chronische Erkrankung und es kann von allen Seiten kommen und man weiß halt nicht, von welcher Seite gerade die Person einen diskriminiert. SPRECHERIN Mit rassistischen Äußerungen ist Janice Owen-Aghedo beim Arzt auch unabhängig von ihrer Erkrankung konfrontiert. Als sie vor einiger Zeit wegen Migräne beim Neurologen ist, läuft erstmal alles gut… ZSP_6 O-TON JANICE - Neurologe Und dann immer noch zum Schluss muss ja kommen: Ja wissen Sie, wo kommen Sie denn eigentlich her? Wo ich mir denke: Was hat das denn jetzt mit meinen Kopfschmerzen zu tun? Und dann habe ich halt die Frage auch nett abgewunken und gesagt: Ja, ich komme aus dem Ruhrgebiet, bin nach Düsseldorf gezogen. Nee, aber bei Ihnen, da ist doch noch irgendwas anderes drin… Wo ich mir denke: Ich bin keine Mischung, ich bin kein Tier oder so und habe dann gesagt irgendwann: Ja, mein Dad kommt aus Nigeria. Ah, Nigeria, ja, habe ich sofort gesehen. Wo ich mir denke: Bitte, was soll das und warum ist das jetzt unbedingt wichtig für meine Behandlung? Und das habe ich halt ständig MUSIK/TRENNER SPRECHERIN Janice Owen-Aghedo ist mit ihren Erfahrungen nicht allein. Das belegt der Nationale Diskriminierungs- und Rassismusmonitor, kurz NaDiRa, zum Thema Gesundheit. Unter dem Titel „Rassismus und seine Symptome“ haben die Forschenden 2023 ihre Ergebnisse veröffentlicht. ZITATOR (aus NaDiRa) Frauen geben am häufigsten an, negative Erfahrungen im Gesundheitsbereich zu machen. So sagen etwas mehr als zwei Drittel der muslimischen Frauen, sie seien schon einmal von Ärzt*innen oder sonstigem medizinischem Personal „ungerechter oder schlechter behandelt“ worden als andere. […] Mehr als zwei Drittel der Schwarzen Frauen geben an, im Gesundheitswesen ungerechter und schlechter als andere behandelt worden zu sein. […] Unter asiatischen Frauen geben knapp zwei Drittel an, dass sie im Gesundheitsbereich eine ungerechte und schlechte Behandlung erfahren haben. […] Auch knapp zwei Drittel der Schwarzen Männer geben an, im Gesundheitswesen diskriminiert worden zu sein. SPRECHERIN Die Ergebnisse des NaDiRa sind wichtig, denn zuvor gab es in Deutschland keine belastbaren Daten zu gesellschaftlichen Entwicklungen und Trends in Bezug auf Rassismus und Diskriminierung. Bei der Rassismusforschung hinkt Deutschland hinterher. ZSP_7 O-TON CIHAN – Rassismusforschung1 Natürlich gibt es in Deutschland Rassismusforschung seit dem Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre, aber die wird eher an den Rändern des Wissenschaftsbetriebes gemacht. Und es rückt jetzt langsam immer mehr in die Mitte, ins Zentrum. Und man sieht das ja auch in den öffentlichen Debatten. SPRECHERIN Sagt Cihan Sinanoğlu. Der Sozialwissenschaftler leitet am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung die Geschäftsstelle für den Rassismusmonitor. ZSP_8 O-TON CIHAN – Rassismusforschung2 Also Rassismus ist durchaus ein Thema, was immer mehr diskutiert wird, aber wurde halt in der Geschichte dieses Landes immer wieder entweder an die sozialen Ränder verschoben, also Rassismus wurde gleichgesetzt mit so Rechtsextremen, Nazis, Springerstiefel und so weiter. Dann wurde Rassismus quasi in die Geschichte verschoben, so was wie, das gab es vielleicht noch nur vor 1945, nach 1945 gab es das alles nicht mehr. Und dann wurde Rassismus auch immer wieder verschoben, und zwar territorial. Man hat immer gesagt, ja Rassismus gibt es in Frankreich, in den USA, in England, aber nicht bei uns. MUSIK/TRENNER SPRECHERIN Zur Forschungslücke kommt im Bereich der Medizin noch ein strukturelles Problem: Es gilt die Norm eines weißen Mannes. Konkret heißt das, Medikamente werden auf einen „weißen Mann“ abgestimmt, Geräte auf ihn eingestellt. Frauen, Schwarze Menschen, People of Color und alle anderen, die von der Norm abweichen, haben dann möglicherweise eine schlechtere Chance auf eine adäquate Gesundheitsversorgung. Oft wird ihnen darüber hinaus auch vorgeworfen, bei Schmerzen zu übertreiben: ZSP_9 O-TON CIHAN – Morbus Mediterraneus Es gibt in der Forschung einen Begriff, der tatsächlich nicht gelehrt wird an den Universitäten, der aber quasi trotzdem noch benutzt wird in Kliniken. Und zwar der Morbus Mediterraneus oder Morbus Bosporus genannt oder Mamma Mia-Syndrom. Also alle diese Worte beschreiben eigentlich, dass die Frauen aus dem globalen Süden oder aus dem Mittelmeerraum in ihrem Schmerzempfinden übertreiben würden. Und das wollten wir empirisch überprüfen, ob das denn stimmt, ob wirklich die Patientinnen diese Erfahrungen machen. Und sie machen sie. Und zwar vor allen Dingen die von Rassismus betroffenen Frauen. Die geben zwischen 30 und 40 Prozent an, dass ihre Symptomatiken von Ärzt*innen nicht ernst genommen werden. [[SPRECHERIN Die Ergebnisse der Studie passen zu den Erfahrungen, die Janice Owen-Aghedo, die Endometriose-Patientin, gemacht hat, als sie in der Praxis mit ihren Schmerzen als „dramatisch“ abgestempelt wurde. ]] SPRECHERIN Paradoxerweise kursiert gleichzeitig unter Medizinern die Annahme, dass Schwarze Menschen weniger Schmerzen empfinden bzw. diese besser aushalten würden. ZITATORIN Lilliane - NaDiRa Im Gesundheitswesen denken viele, dass Schwarze Menschen viele Schmerzen aushalten können, weil sie kommen aus Ländern, wo viele arm sind und wo man nicht viel hat, wo man mit Schmerzen umgehen lernen musste, wo medizinische Versorgung eh total schlecht ist, deswegen kann man die lange warten lassen – also wie in meinem Fall. SPRECHERIN Das sagt Lilliane im Rahmen einer Befragung des NaDiRa. Medizinische Fachkräfte verbinden ihr Bild von Schwarzen Patienten und Patientinnen mit stereotypen Annahmen über die Gesundheitsversorgung in ökonomisch schlechter gestellten Ländern, erklärt die Studie. MUSIK/TRENNER SPRECHERIN Rassismus setzt sich – ob bewusst oder unbewusst – im Wissen der Ärzte fest, was wiederum Folgen für die Diagnostik haben kann. ZITATORIN Rose – NadiRa (aus dem Englischen) Du gehst zum Frauenarzt, und sie fragen dich: ‚Haben Sie schon einen HIV-Test gemacht?‘ Nur weil du Schwarz bist, wollen sie dich testen. SPRECHERIN Das sagt Rose in einer Befragung des NaDiRa, dem Rassismus-Monitor. Während Schwarze Frauen berichten, dass sie in der Gesundheitsversorgung hypersexualisiert werden und ihnen deshalb häufig Tests für sexuell übertragbare Krankheiten oder HIV-Infektionen angeboten werden, ist es bei muslimisch gelesenen Frauen genau andersherum: Ihnen wird eine eigenständige Sexualität abgesprochen und Tests auf Geschlechtskrankheiten nicht durchgeführt. Aufgrund von bestimmten äußerlichen Merkmalen wie Hautfarbe, Name oder Kleidung werden Menschen mit einem Herkunftsland, speziellen Krankheiten oder Verhaltensweisen assoziiert. Janice Owen-Aghedo hat erlebt, zu was so eine Stigmatisierung führen kann. Eine Schwarze Person in ihrer Familie erkrankt vor einigen Jahren schwer an Krebs und muss im Krankenhaus behandelt werden. ZSP_10 O-TON JANICE – afrikanischer Mann Ich habe es live mitbekommen, wie gesagt worden ist, ein wilder afrikanischer Mann würde hier um sich schlagen, obwohl dieser Person einfach ein falsches Medikament verabreicht worden ist, wo die Person darauf reagiert hat. SPRECHERIN Dass Janice Owen-Aghedos Familienmitglied Halluzinationen aufgrund des Medikaments bekommen haben könnte, wird erstmal nicht in Erwägung gezogen. Stattdessen wird die Person ans Bett gefesselt, erzählt sie. ZSP_11 O-TON JANICE – furchtbare Erfahrung Also das war für uns als Familie einfach nur grauenhaft. Eine furchtbare Erfahrung und ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, wenn da eine Person gelegen hätte, die männlich weiß und mit Nachnamen Meier-Schmitz keine Ahnung wie heißen würde, wäre das nicht passiert. MUSIK [[SPRECHERIN Was bei einer Behandlung erschwerend hinzukommen kann, ist eine mögliche Sprachbarriere. Darüber macht sich auch Janice Owen-Aghedo Gedanken. ZSP_12 O-TON JANICE – akzentfrei Deutsch Ich muss dazu noch sagen, ich habe das Privileg, dass ich hier geboren worden bin, ich bin hier zur Schule gegangen, ich spreche akzentfrei Deutsch und kann mich sehr gut selbstständig artikulieren und auch für mich einstehen, aber ganz häufig können das andere Menschen, die hier hinkommen und Hilfe brauchen, nicht.]] SPRECHERIN Politologin und Gesundheitswissenschaftlerin Theda Borde forscht seit 30 Jahren zu Migration und Gesundheit. In einer früheren und in einer 2024 veröffentlichten Studie haben die Wissenschaftlerin und ihr Team herausgefunden, dass Frauen, die nicht gut Deutsch sprechen, weniger häufig eine Periduralanästhesie, kurz PDA, zur Linderung ihrer Geburtsschmerzen bekamen. ZSP_13 O-TON THEDA – pauschale Vorurteile Und da war jetzt dann die Annahme, dass es daran liegt, dass die Patientinnenaufklärung, die dafür erforderlich ist, nicht durchgeführt wurde und dass man gleichzeitig natürlich auch Vorannahmen hat über bestimmte Bevölkerungsgruppen, dass sie Schmerz besser aushalten oder was auch immer. Also auch da sehen wir ganz deutlich, dass hier die Medizin, die ja eigentlich individuell agiert, mit pauschalen Vorurteilen agiert und nicht den Menschen selber in seinen Wünschen, in diesem Fall dann respektiert. SPRECHERIN Von den Menschen, die neu nach Deutschland kommen, bräuchte eigentlich die Hälfte eine Sprachmittlung, sagt Theda Borde. Dafür gebe es in Deutschland aber keine zuverlässige Struktur, Finanzierung und Ausstattung. Bedeutet: Sie werden strukturell ausgegrenzt. Eine Sprachbarriere kann im Krankenhaus, wo unter Zeitdruck gearbeitet wird und eventuell zu wenig Personal da ist, dazu führen, dass Patienten und Patientinnen vernachlässigt werden: Die, die leichter zu versorgen sind, werden eher versorgt. Das hat auch eine Befragung unter geflüchteten Frauen gezeigt. Theda Borde erinnert sich an die Aussage einer Mutter, die aus Afghanistan stammt und in Berlin lebt: ZSP_14 O-TON THEDA – Kind schon da Sie sagte, ich war im Krankenhaus und habe mein Kind ganz allein bekommen. Ich habe die Reinigungsfrau gebeten, den Arzt zu holen. Als sie schließlich kamen, war mein Kind schon da. Das ist also ein gravierendes Beispiel von einer Vernachlässigung und Unterversorgung von einer Frau, die im Krankenhaus war. SPRECHERIN Ausgrenzung und Rassismus sind gesamtgesellschaftliche Probleme, die nicht plötzlich vor der Medizin Halt machen. Gesundheitswissenschaftlerin Theda Borde: ZSP_15 O-TON THEDA - Spektrum Das fängt an von Ausgrenzung, Vernachlässigung oder auch von tatsächlich rassistischen Übergriffen oder auch, sage ich mal, verbalen Übergriffen. Und es ist ein breites Spektrum, es geht im Grunde los von Zugangsbarrieren. Und wir haben festgestellt in verschiedenen Studien, dass sowas wie gesellschaftlicher Rassismus sich natürlich in Institutionen fortsetzt und dann auch auf der interpersonellen Ebene eine Auswirkung hat. Das heißt, wir können das Gesundheitssystem oder die Medizin nicht losgelöst sehen von den gesellschaftlichen Verhältnissen. ATMO (Tastatur tippen) ZITATORIN Terminanfrage „Sehr geehrte Damen und Herren, Ich möchte gerne einen Termin als Patientin in ihrer Praxis ausmachen. Ich habe viele Muttermale und würde die gerne mal wieder untersuchen lassen. Ich bin bei der Allianz versichert. Ich bin zeitlich flexibel und würde mich über einen Vorschlag für einen baldigen Termin freuen. Ich werde diesen dann zeitnah bestätigen. Vielen Dank für Ihre Mühe. Mit freundlichen Grüßen Elif Yilmaz“ SPRECHERIN Eine ganz normale Terminanfrage. Und ein Beispiel von knapp 6800 fiktiven Anfragen, die Forscher des Rassismusmonitors an verschiedene Praxen geschickt haben. Mit dem Experiment fanden sie heraus: Die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen und Männer mit einem Namen, der in Nigeria oder der Türkei verbreitet ist, eine positive Antwort auf ihre Terminanfrage erhalten, ist deutlich niedriger als bei Frauen und Männern mit einem in Deutschland verbreiteten Namen. Besonders deutlich sind die Unterschiede bei psychotherapeutischen Praxen. MUSIK/TRENNER SPRECHERIN Das Problem ist: Wer erst nach etlichen Anfragen einen Termin bekommt, verliert Zeit. [[Wer sich mit seinen Symptomen nicht ernst genommen fühlt, wechselt womöglich häufig die Praxis oder geht irgendwann überhaupt nicht mehr hin – auch das kostet Zeit.]] ZSP_16 O-TON CIHAN - lebensbedrohlich Wir wissen auch aus der Forschung, dass diese Verzögerungen natürlich lebensbedrohliche Ausmaße annehmen können. Manchmal zählt jede Minute, jede Sekunde. Und das ist, finde ich, auch ein Befund, der uns aufhorchen lassen sollte. MUSIK ZSP_17 O-TON CIHAN – Leben und Tod … weil Gesundheit über Leben und Tod natürlich entscheidet, vor allem die Gesundheitsversorgung, entscheiden kann. MUSIK [[SPRECHERIN Daten aus den USA zeigen zum Beispiel, dass Schwarze Frauen ein knapp 3,5-mal so hohes Risiko haben als weiße Frauen, in der Schwangerschaft, bei der Geburt oder danach zu sterben. Während der Corona-Pandemie starben Schwarze US-Amerikaner überdurchschnittlich oft. Janice Owen-Aghedo macht das wütend. ZSP_18 O-TON JANICE – tötet Also ich sage das immer und ich meine genauso wie ich das sage, Rassismus in der Medizin tötet. Menschen gehen nicht mehr zu Ärztinnen, weil sie Angst haben, dort schlecht behandelt zu werden und daraufhin erleiden sie vielleicht Erkrankungen, die man hätte vorher erkennen können oder bekommen einfach nicht die Hilfe, die sie brauchen.]] MUSIK/TRENNER SPRECHERIN Eine ungleiche Behandlung von Patienten und Patientinnen steht eigentlich den ethischen Prinzipien ärztlichen Handelns entgegen. So heißt es im Gelöbnis der Deklaration von Genf, das Teil der Berufsordnung für Ärztinnen und Ärzte in Deutschland ist: ZITATOR Ausschnitt Genfer Gelöbnis Ich werde nicht zulassen, dass Erwägungen von Alter, Krankheit oder Behinderung, Glaube, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politischer Zugehörigkeit, Rasse, sexueller Orientierung, sozialer Stellung oder jeglicher anderer Faktoren zwischen meine Pflichten und meine Patientin oder meinen Patienten treten. SPRECHERIN Sozialwissenschaftler Cihan Sinanoğlu findet diesen Grundsatz erstmal gut, sagt aber, dass die Gleichbehandlung nicht Praxis, sondern eher ein Ziel sei. ZSP_19 O-TON CIHAN - Eid Also es wäre schön, wenn es die Praxis gäbe, dann hätten wir diese Studie nicht machen müssen, weil wir gesagt hätten, nein, die haben doch alle den Eid geschworen, also gibt es kein Problem. Wir wissen aber, dass Rassismus so nicht funktioniert. [[Also er wirkt auch dann, wenn diese Selbstverständnisse so artikuliert werden.]] Welcher Mensch sagt denn, ich bin ein Rassist, ich behandle Menschen ungleich? Sondern es hat was damit zu tun, dass dieses rassistische Wissen eingeschrieben ist in die Institution. Nicht der Eid ist das Problem, aber quasi die kritische Auseinandersetzung damit. Ist es denn wirklich so, dass ich alle Menschen gleichbehandle? Dieser Eid manchmal wie so ein Schutzschild. Man sagt, nein, warum, ich habe doch ein Eid geschworen, ich behandle alle gleich, Deckel drauf, Problem gelöst. MUSIK/TRENNER SPRECHERIN Rassismus ist in den Institutionen des Gesundheitswesens verankert. Und das fängt schon bei der Ausbildung an, denn Stigmatisierung findet sich auch in den medizinischen Lehrmaterialien. Cihan Sinanoğlu und sein Team haben sich angeschaut, wie Menschen, die von Rassismus betroffen sind, bebildert und beschrieben werden: Einerseits fanden sie heraus, dass von Rassismus betroffene Gruppen überproportional häufig mit Drogen und Alkoholkonsum bebildert wurden. Andererseits waren sie auch unterrepräsentiert: ZSP_20 O-TON CIHAN - Unterrepräsentation Zum Beispiel bei Hautkrankheiten, vor allem schwarze Haut dort, im Grunde genommen fast gar nicht bebildert wurde. Das könnte man sagen, naja, ist ja egal, dann werden die halt nicht, dann werden die so oder so bebildert. Aber bei den Hautkrankheiten, das wissen wir auch aus der Forschung, zum Beispiel Gerätschaften, die Hautscreenings machen und die feststellen wollen, ob Hautkrankheiten oder Hautkrebs vorliegen, bei schwarzer Haut nicht funktionieren, weil sie auf weiße Haut geeicht wurden. SPRECHERIN Das bedeutet: Mediziner sind mitunter nicht genügend ausgebildet, um Symptome auf allen Hauttönen zu erkennen – einfach, weil sie kein ausreichendes Bildmaterial dazu im Studium gesehen haben. Dieses Problem kennt auch Ephsona Shencoru. Sie ist Dermatologin und hat sich auf „skin of color“, spezialisiert. Dass dunklere Hauttypen viel seltener in Lehrbüchern abgebildet sind, sei aber nicht nur für die Dermatologie problematisch – denn auch Ärzte anderer Fachrichtungen müssen beurteilen, was sie auf der Haut sehen. ZSP_21 O-TON EPHSONA - Hautröte Das Wichtige oder so eine Sache, die wir alle früh lernen, ist das Erythem, das heißt die Erkennung von Hautröte. Und da ist ja auch schon der erste wichtige Unterschied, dass einfach Rötung was sehr Subjektives ist, und Rötung einfach bei jedem anders aussehen kann. Das heißt, umso dunkler der Hautton ist, dann kann ich nicht erwarten, dass ich ein lachsfarbenes Rot oder Rosa vorfinde, sondern eher vielleicht eine dunklere Pigmentierung oder etwas, was in dieses gräulich-bräunliche, bläuliche übergeht. Und das sind natürlich die wichtigen Sachen, die man wissen muss, um sie zu erkennen, um dann auch vielleicht zu erkennen, dass der Patient eine Infektion hat, um dann auch anschließend behandelt zu werden. SPRECHERIN Werden Alarmzeichen nicht erkannt und die Diagnose falsch oder verspätet gestellt, kann es gefährlich für Patienten werden. Zum Beispiel beim Schwarzen Hautkrebs: Eine Studie aus den USA, die Melanom-Patienten untersucht hat, fand heraus, dass die Latino- und Schwarze Bevölkerung insgesamt zwar seltener schwarzen Hautkrebs hatte, aber wenn, waren sie beim Zeitpunkt der Diagnose schon in einem sehr fortgeschritteneren Stadium. ZSP_22 O-TON EPHSONA - Outcome Bedeutet, dass das Outcome des Patienten auch schlechter ist. Das heißt, die Prognose schlechter, die Therapie ist viel, viel größer, viel aufwendiger und bedarf auch wahrscheinlich mehr. SPRECHERIN Für eine gleich gute Behandlung aller Patienten braucht es also mehr Wissen, das heißt auch mehr Repräsentation in den Lehrmaterialien. MUSIK/TRENNER ZSP_23 O-TON EPHSONA - aufarbeiten Das Schöne ist ja auch da, dass die Studierenden das auch wirklich einfordern. Ich glaube, dass viele Studierende uns auch als Lehrende fragen, wie sieht das auf dunkler Haut anders aus? Was ja auch immer ein schöner Anreiz ist für die Dozierenden, nächstes Mal die Folien dann doch aufzuarbeiten. SPRECHERIN Bis die Wissenslücke vollständig geschlossen ist, sind extra Angebote und weitere Aufklärung nötig. Ephsona Shencoru richtete 2022 etwa eine Spezialsprechstunde an der Charité Berlin für Patienten mit „Skin of Color“ ein. Sie erinnert sich besonders an einen Patienten, der schon bei mehreren Hautärzten war und über sieben Jahre Symptome hatte. ZSP_24 O-TON EPHSONA - Patient [[Und diverse Diagnostik eigentlich auch schon lief, was super war, Therapie auch schon bekommen hat, aber nichts hat so richtig geholfen.]] Und der hatte letzten Endes wirklich eine Erkrankung, die ein ganz anderes Kaliber, sozusagen. Also das war eine Mykosis funguides, also das ist eine Art von Lymphom, das gehört zu der großen Gruppe. Und ist eigentlich was ganz anderes als das, auf was er bisher die ganzen Jahre behandelt worden ist. Und das war natürlich irgendwie ein sehr, sehr schönes Gefühl. Und nochmal für mich und ich glaube für mein Team auch so eine Bestätigung für die Sprechstunde, dass wir einfach Patienten den Raum geben können, die Möglichkeiten geben können, sich vorzustellen, wenn sozusagen bis dato sie noch nicht wirklich weitergekommen sind mit ihrer Hauterkrankung. SPRECHERIN Solche kleinen Erfolge lösen aber nicht das grundsätzliche Problem. ZSP_25 O-TON EPHSONA - Ziel Also ich sage immer, mein Ziel ist eigentlich, diese Sprechstunde gar nicht zu haben. Weil ich finde, das ist ja was, was jeder machen soll. Ich möchte auch nicht das Gefühl haben, dass dann nur manche Leute dann dafür zuständig sind. Es ist ja einfach Teil der Gesellschaft und unsere Gesellschaft ist einfach nun mal divers. Ich sehe es aber eigentlich als eine Chance, dieses Thema einfach rauszutragen. SPRECHERIN Dieses Ziel verfolgt auch das Projekt „Empowerment für Diversität“ an der Charité Berlin. Wissenschaftlerin Theda Borde ist dort Co-Leiterin. Seit 2022 arbeitet das Projekt mit sieben Frauenkliniken und zehn Bildungseinrichtungen in Deutschland zusammen. Die Kliniken wollen herausfinden, wo Risiken für Diskriminierung bestehen und praktische Lösungen dafür erarbeiten. Die Bildungspartner entwickeln Lehrmodule und Strategien, um rassismuskritische Inhalte in Ausbildungen, Fortbildungen und Studiengängen des Gesundheitspersonals zu verankern. 2025 soll eine für alle frei zugängliche Plattform mit dem Material gelauncht werden. Das Projekt will auch vernetzen: Kräfte bündeln, nachhaltig viele Menschen für mehr Chancengerechtigkeit erreichen. ZSP_26 O-TON THEDA – was nützt Was nützt der bestqualifizierte Mensch, wenn sie auf Strukturen kommt, die diese Kompetenzen gar nicht zum Zuge kommen lassen, weil Aufklärungsmaterialien nicht in verschiedenen Sprachen verfügbar sind, weil keine Sprachmittlerinnen eingesetzt werden, weil vielleicht die Kollegen nicht mitziehen. Und andererseits, was nützen uns die besten Strukturen in der Gesundheitsversorgung, wenn die Kompetenzen fehlen? Also von daher ist es sehr, sehr wichtig, dass wir hier verschiedene Ebenen berühren und die auch die Synergien dazwischen weiterbeleben. MUSIK/TRENNER SPRECHERIN Rassismus und damit auch Rassismus in der Medizin betrifft jeden und jede– nicht nur die, die unmittelbar darunter leiden. ZSP_27 O-TON CIHAN - Demokratie Und da geht es nicht nur darum, dass es jetzt quasi verändert werden muss, damit es einer Minderheit in dieser Gesellschaft besser geht, sondern die Art und Weise, wie wir mit Rassismus umgehen, ist ein Maßstab von demokratischer Entwicklung. Wenn wir es nicht schaffen, allen Gruppen, allen Menschen in dieser Gesellschaft einen gleichwertigen Zugang zur Gesundheitsversorgung zu ermöglichen, dann stimmt was mit unserer Demokratie nicht. KURZER TRENNER ZSP_28 O-TON JANICE – fair und gleich Ich würde mir einfach wünschen, dass es eine faire und gleiche Behandlung für alle Menschen gibt. Also egal, was eine Person mitbringt, sei es aufgrund ihrer Familiengeschichte, aufgrund der geschlechtlichen Identität oder anderen Themen, dass Ärzte einfach ihren Job machen und das ist, Menschen zu helfen und nicht Menschen zu diskriminieren und damit grob fahrlässig zu handeln.…
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